Streit um Umweltchemikalien

Die gesundheitlichen Folgen von Umweltchemikalien mit hormonähnlicher Wirkung sind nach wie vor unklar. Widersprechende Studien sorgen für Verwirrung. Der Vorsorgeschutz erfordere ein Anwendungsverbot, sagen Umweltschützer

von SEBASTIAN LINKE

Zahlreiche große Studien in Europa und Amerika zeigen, dass sich die Samenqualität des Mannes in den letzten Jahrzehnten zunehmend verschlechtert hat. In den USA soll die Unfruchtbarkeitsrate bereits um 50 Prozent angestiegen sein. Mediziner vermuten, dass solche Veränderungen von Industriechemikalien mit hormonähnlicher Wirkung hervorgerufen werden. Das Gefährliche an diesen Chemikalien ist, dass sie körpereigene Hormone imitieren und dadurch entscheidende Veränderungen im Körper einleiten.

Vor allem die Fortpflanzungsprozesse, die ja durch Hormone gesteuert werden, können von diesen Giftstoffen gestört werden. Ein hormonell aktiver Umweltstoff ist das vor allem in der Kunststoffproduktion eingesetzte Bisphenol A (BPA). Durch seine verweiblichende Wirkung kann es etwa eine verfrühte sexuelle Reife auslösen. BPA ist unter anderem in Nahrungsmittelverpackungen, Plastikbabyflaschen und Zahnfüllungen zu finden.

Die mit internationalen Experten besetzte Tagung „Umweltchemikalien und Fortpflanzungsstörungen“ beschäftigte sich am vergangenen Wochenende in Berlin mit den Risiken dieser hormonell aktiven Umweltstoffe. BPA diente dabei als Musterbeispiel für alle weiteren Verbindungen dieser Art. Die vom Umweltbundesamt (UBA) organisierte Konferenz war geprägt von Unstimmigkeiten darüber, ob die Umweltgifte auch in geringen Mengen bereits gefährlich sind. „Die bisherigen Untersuchungen zur Umweltverträglichkeit von BPA weichen gravierend voneinander ab“, berichtete Andreas Gies vom UBA.

So wiesen unabhängige Laboratorien bei Versuchsmäusen schon bei extrem niedrigen Konzentrationen Effekte nach. Brisant sind diese Ergebnisse vor allem, weil die Auswirkungen schon bei Konzentrationen auftraten, die weit unterhalb derer liegen, die bisher für Verträglichkeitstests vorgeschrieben sind.

Die im Auftrag der Industrie durchgeführten Studien kommen hingegen zu gegenteiligen Ergebnissen. „Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen über die Gefährlichkeit von BPA und macht die scheinbare Sicherheit hinfällig“, so der Umweltexperte Gies. Seine Aufgabe, die „wissenschaftlichen Unsicherheiten“ im Sinne des Verbrauchers zu bewerten, ist daher auch nicht gerade einfach.

„Die Wahrscheinlichkeit eines experimentellen Irrtums ist für mich hier kleiner geworden“, resümiert der Umweltbeamte vorsichtig die Tagung. Das heißt, er befürchtet eine hormonelle Wirkung der Umweltstoffe auch auf Menschen.

Von der chemischen Industrie für die Produktion von Plastikstoffen hergestellt, gelangt BPA über zahlreiche Endprodukte in den Stoffkreislauf. Dadurch ist BPA unter anderem in Recyclingpapier und Klärschlamm zu finden und gelangt als Düngemittel auf die Felder. Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien mit alarmierenden Resultaten. So fanden US-Wissenschaftler der Universität von Missouri heraus, dass weibliche Mäuse früher geschlechtsreif werden, wenn sie im Mutterleib der Chemikalie BPA ausgesetzt waren. Professor Ibrahim Chahoud, Toxikologe an der FU Berlin, erforscht die Gefahren von BPA an Ratten. Er entdeckte, dass die Tiere Abnormalitäten bei der Entwicklung ihrer Genitalien zeigen, wenn sie als Embryonen mit der Chemikalie in Kontakt kommen. Während der Embryonalentwicklung im Mutterleib sind die Stoffe besonders gefährlich, weil sie hier in die sexuelle Entwicklung eingreifen. Zum Teil kommen die Fehlbildungen auch erst in einem viel späteren Entwicklungsstadium, zum Beispiel in der Pubertät, zum Tragen. Dies konnte experimentell an Modellorganismen, Mäusen und Ratten, gezeigt werden. Feten und Kleinkinder stellen aufgrund ihrer besonderen Empfindlichkeit und der Irreversibilität der Effekte die Hauptrisikogruppe dar. Die reduzierte Spermienproduktion, die die Zeugungsfähigkeit verringert, steht im Verdacht, Folge dieser Umweltgifte für den Menschen zu sein.

BPA ist mittlerweile ubiquitär, es kommt überall in unserer Umwelt vor. Allein 1995 wurden in Deutschland 210.000 Tonnen BPA in die Umwelt eingebracht. Laut Umweltbundesamt steht BPA nicht nur im Verdacht, sexuelle Abnormitäten hervorzurufen, es könnte auch ein Auslöser von Brust- und Hodenkrebs sein.

Neben BPA stehen noch mehrere hundert weitere hormonell wirksame Substanzen auf der Liste der Umweltbehörde. Tributylzinn (TBT) zum Beispiel. Im Gegensatz zu BPA hat TBT eine vermännlichende Wirkung. Diese Substanz wird unter anderem bei Schiffsanstrichen verwendet; sie soll den Tier- und Pflanzenbewuchs des Schiffsrumpfs verhindern. Die hormonelle Wirkung dieser Substanz ist eindeutig bewiesen. Weiblichen Meeresschnecken wachsen Penisse, wenn sie mit der Chemikalie in Kontakt kommen. Männliche Barsche werden verfrüht geschlechtsreif, wenn sie in mit TBT kontaminiertem Wasser aufwachsen. Die Verbindung erregte in diesem Jahr öffentliches Aufsehen, als bekannt wurde, dass TBT auch in Fußballtrikots und Babywindeln enthalten sein soll. Über die Haut aufgenommen, können die Stoffe ins Hormonsystem eingreifen.

Die Umweltschutzorganisation Greenpeace fordert schon seit langem ein rigoroses Verbot aller hormonell aktiven Substanzen. „Da die Wirkungen bekannt, die Folgen jedoch schwer abzuschätzen sind, müssen diese Stoffe vom Markt genommen werden“, so Tilo Maack, Chemieexperte bei Greenpeace. Oft wirken die Substanzen nur während kritischer Phasen wie der Embryonalentwicklung, wohingegen Untersuchungen an erwachsenen Tieren keine Auswirkungen feststellen konnten.

Professor Herwig Hulpke von der Bayer AG vertrat auf der Berliner Tagung die chemische Industrie. Er hatte es nicht gerade leicht in dieser Position. Immer wieder führte er an, dass in „normalen Versuchen“ seitens der Produzenten keine Effekte nachgewiesen wurden, und wehrte sich gegen die Überbewertung der Ergebnisse. Die Schlussfolgerung „Es ist so!“ zu ziehen sei völlig falsch, proklamiert Hulpke und führt Befunde und Gegenbefunde ins Feld. Erst wenn die Wissenschaftler Aufklärung in dieses grundlegende Thema gebracht hätten, sollten Konsequenzen bei der Herstellung der Produkte gezogen werden.

Greenpeace ist da grundsätzlich anderer Meinung. Es könne nicht angehen, dass der Industrie immer erst bewiesen werden müsse, dass gewisse Substanzen giftig sind. Vielmehr solle man doch von der Industrie verlangen, ihrerseits die Ungefährlichkeit ihrer Produkte nachzuweisen. Der Tagungsleiter Chahoud wiederum hält strikte Verbote für unangebracht. „Wir leben in einem Chemiezeitalter und brauchen diese Stoffe“, so der Toxikologe. „Wir müssen nun jedoch darüber nachdenken, in welchen Bereichen sie einsetzbar sind, und vor allem einheitliche Verfahren finden, die Risiken dieser Stoffe zu überprüfen“, erhofft sich der Wissenschaftler von der zukünftigen Forschung.