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Großvater war klein, als Hitler groß war

Zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren: Menschen, die ihre Kindheit in den Jahren des Zweiten Weltkriegs erlebten

von GABI TRINKAUS

„Das Tagebuch der Anne Frank“ ist das weltweit meistverkaufte Buch, noch vor der Bibel. Es war vielleicht das erste Buch über eine Kindheit im Faschismus. Es blieb das bekannteste, unter anderem weil es da aufhört, wo das Grauen beginnt.

Die Kindheitserinnerungen der Polin Janina David, „Ein Stück Himmel“, sind weitgehender. Sie dokumentieren den unaufhaltsamen Absturz einer reichen, jüdischen Familie, die weder religiös noch sympathisch ist. Vater und Mutter verstehen sich nicht. Das katholische Kindermädchen Stefa ist Janinas Bezugsperson. Sie beten gemeinsam zur Madonna. Janina will, wenn sie groß ist, katholisch werden. Als Hitlers Armee 1939 Polen überfällt, verlässt Stefa Janina. Haus und Reichtümer werden von Soldaten kassiert. Anfangs kämpft die Mutter noch um ihren Besitz, dann nur noch ums Überleben. Sie werden gejagt von Schlupfloch zu Schlupfloch bis ins Warschauer Getto. Die Falle ist zugeschnappt. Im Leid rauft sich die Familie zusammen. Janina gelingt es, das Leben im Getto genauso intensiv zu schildern, wie sie es erlebte. Die Enge, der Hunger, die Bedrohung werden wieder lebendig.

Janina David: „Ein Stück Himmel“. dtv, 16,50 DM, ab 13

Gegen das Vergessen

Magda Eggens hat ihr Buch über ihre Kindheit in Ungarn, Auschwitz und fünf weiteren Konzentrationslagern nur mit Unterstützung von Rose Lagerantz schreiben können. 1945, mit zwanzig Jahren, wurden sie und ihre Schwester vom schwedischen Roten Kreuz gerettet. Sie hat ihr Buch bewusst gegen das Vergessen geschrieben.

Eggens, Lagerantz: „Was meine Augen gesehen haben“. Sauerländer, 21,95 DM, ab 12

Zigeunerjunge

Josefs authentische Geschichte hat Anja Tuckermann aufgeschrieben. Josef, genannt Muscha, wurde adoptiert. Später bot man den Eltern an, das Zigeunerkind gegen ein „reinrassiges“ zu tauschen. Doch die Mutter sagt, dass Kinder keine Tische seien, die man einfach wechselt. Dafür wird sie bestraft.

Für Muscha beginnt der Horror allmählich. Andere Kinder dürfen nicht mehr mit ihm spielen. Etwas stimmt nicht mit seiner Haut und seinen Haaren. Er versteht die Welt nicht mehr. In der Schule darf ihn jeder schlagen und schikanieren. Schließlich wird er entführt, befreit, lebt versteckt. Die Amerikaner bringen ihn zurück nach Hause. Endlich erfährt er, warum er das alles erdulden musste. Als erwachsener Mann erkennt Muscha, dass das Erlebte für sein Leben immer von Bedeutung sein wird. Die Angst ist geblieben.

Anja Tuckermann: „Muscha“. Klopp Verlag, 24,80 DM, ab 12

Flüchtlingskinder

Natürlich haben sich neben Zeitzeugen viele SchriftstellerInnen mit der Nazizeit beschäftigt. Über Kindertransporte gibt es neben authentischen Berichten (Lore Segal: „Wo andere Leute wohnen“, Picus) auch einen mehrteiligen Roman. Kindertransporte boten eine Möglichkeit, wenigstens das Leben der Kinder zu retten. Verschiedene Staaten waren bereit, Kinder aufzunehmen. Die Kinder fuhren in dem Glauben, die Eltern würden nachkommen.

Das Buch „In der Tiefe des Meeres“ erzählt von zwei Schwestern, die im Alter von 12 und 7 Jahren in Wien in den Zug gesetzt werden und in Schweden bei verschiedenen Familien unterkommen. Vier Jahre später erinnert sich die Jüngere nur noch undeutlich an zu Hause. Am liebsten wäre sie Schwedin wie ihre Freundinnen. Steffi aber, die Ältere, hat Heimweh. Viel zu selten dürfen die Eltern aus Theresienstadt schreiben. Dreißig Wörter auf einer Karte. Nicht mehr als ein Lebenszeichen. Nur gut, dass ihre schwedische Mutter sie wirklich liebt. Leider ist Steffi zu arm, um Pakete nach Theresienstadt bezahlen zu können. Sie wendet sich an ihre Kirche. Fehlanzeige: Die möchte lieber Christen helfen. Steffi ist eine gute Schülerin. Aber das Hilfskomitee sieht sich nicht in der Lage, ihre Ausbildung bis zum Abitur zu finanzieren. Täglich spüren die Kinder, dass sie Flüchtlinge sind.

Annika Thor: „In der Tiefe des Meeres“. Carlsen, 24,90 DM, ab 12

Stammbaumunglücke

Josef Holubs lässt in „Lausige Zeiten“ den vierzehnjährigen Josef mit kauzigem Durchblick Geschichten aus dem Böhmerwald erzählen. Wer hat schon eine Mutter, die schneller ist als Hitler und noch vor der neuen Grenzziehung das rettende Weihwasser aus Prschibram geholt hat? Damit ist sie jetzt sparsam, weil man ja nicht weiß, wie lange der Krieg noch dauert. Trotzdem wird Josef damit überschüttet. Schließlich zieht er in die Fremde. Die Nazis wollen, dass Josef Lehrer wird. Die nächsten Jahre wird er in einer Lehrerbildungsanstalt verbringen und nur zu den Ferien nach Hause kommen. Klar, dass in solchen Anstalten alle arisch sind. Dafür sehen manche ganz schön komisch aus. Aber Josef weiß schon, dass arisch nicht schön ist. Er kennt da radikale Beispiele. Und so mustert er die Welt, entlarvt sie, ohne es zu merken. Zusammen mit seinem Freund Florian kann ihm die militärisch organisierte Schule nicht viel anhaben. Doch dann gibt es einen rassischen Mangel in Florians Ariernachweis . . . Ein gelungenes Buch über eine katastrophale Zeit.

Josef Holub: „Lausige Zeiten“. Beltz & Gelberg, 12,80 DM, ab 12

Fehlerhaft Arisch

„Daniel Halber Mensch“ weiß nichts von seinem Fehler. Zusammen mit seinem Freund Armin kann er es kaum erwarten, in die Hitlerjugend aufgenommen zu werden. Sie machen auf eigene Initiative Aktionen und landen im Knast. Für Armins Vater, der Sozialist ist, ein schwerer Schlag. Für Daniels Vater, Rechtsanwalt, ein weiterer Beleg, dass Daniel der Umgang mit dem Proleten Armin nicht bekommt. Daniel ist entschlossen, auch gegen den Willen der Eltern in die Hitlerjugend einzutreten. Sein Vater will es ihm autoritär verbieten, doch die Mutter erklärt es ihm: Nach der Definition der Nazis ist sie nicht länger Deutsche, sondern Jüdin. Warum hast du eine Jüdin geheiratet?, fragt Daniel anklagend seinen Vater. Dieser verordnet Stubenarrest. Vergeblich träumt Daniel, dass ihn der Führer zum Ehrenarier ernennt oder aufnordet. Die Realität holt ihn ein, und damit verändert sich auch seine Sicht der Dinge. Die Freundschaft mit Armin rettet ihm das Leben, aber die Freundschaft zerbricht.

David Chotjewitz: „Daniel Halber Mensch“. Carlsen, 29,90 DM, ab 12

Mädchen, Liebe, Hitler

„Lauf, Lilly, lauf!“ spiegelt bunt und vielschichtig eine komplizierte Zeit. Auf der Flucht vor den Bomben trifft die vierzehnjährige Lilly auf einem kleinen mecklenburgischen Gut Menschen unterschiedlichster Art: Bauern, polnische Zwangsarbeiter, einen Widerstandskämpfer und sogar eine Prinzessin namens Isabell. Sie ist so alt wie Lilly und entschlossen, Lilly abzuweisen. Denn diese gehört auf die Seite der Schweine. Isabells Vater sitzt als Politischer in Sachsenhausen, die Mutter ist „Dreivierteljüdin“. Gerade wurden sie aus ihrem Haus geschmissen, um Lillys Familie Platz zu machen. Kein guter Anfang für eine Freundschaft. Doch weil Lilly nicht aufgibt, teilen sie sich bald sogar eine geheime Hütte im Wald und werden unzertrennlich. Lillys Liebe zu Hitler schwindet. Die Mütter weinen um ihre Männer und sind nicht belastbar. So leben die Mädchen am Rande des Krieges ihr eigenes Leben und sparen die Politik aus, weil die Erwachsenen ohnehin machen, was sie wollen. Bis eines Tages in ihrer Hütte ein Engländer sitzt. Sie kümmern sich um ihn. Das bringt ihre Freundschaft und ihre Familien in große Gefahr. Gut, dass Onkel Jupp als Ritterkreuzträger Respekt genießt und die Spuren rechtzeitig verwischen kann. Und das ist vielleicht das Wichtigste an diesem spannenden Buch: Es räumt auf mit dem Schubladendenken.

Auch im zweiten Band bleibt sich Lilly treu. Der Krieg ist vorbei, aber das Leben alles andere als normal. Lilly wird mit jüdischem Leid konfrontiert. Sie hilft und muss leiden. Sie kann sich nicht wehren, weil der Vorsprung der Juden, was das Leiden betrifft, uneinholbar ist. Die Männer in der Familie gehen wie im Krieg wichtigen Beschäftigungen nach. Sie schmuggeln an den Engländern vorbei Juden nach Palästina und überlassen den Frauen die Kämpfe des Alltagslebens. Und Lilly reibt sich auf im Kampf gegen bürokratische Engländer, übrig gebliebenes Nazidenken und die Liebe. Ein gelungenes Buch nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Zeitzeugen.

Helga Hegenwisch: „Lauf, Lilly, lauf!“, „Lilly und Engelchen“. Atrium, je 27,50 DM, ab 14

Kinder in Palästina

Die Geschichte spielt in einem Kinderdorf in Israel. Die Kinder sind fast alle Überlebende der Nazizeit. Manche sind so wie die Ich-Erzählerin in Israel geboren. Die Eltern sind zu krank, um sich um ihr Kind zu kümmern. Andere haben noch ferne Verwandte, die sie besuchen können. Manche sind die einzigen Überlebenden ihrer Familien. Gemeinsam haben sie einen Baum auf einem Hügel, dem sie alles anvertrauen, ihre ganze Sehnsucht nach dem verlorenen Zuhause und die Angst vor der Zukunft. Aber es gibt auch Wunder. Ein Vater wird wiedergefunden, lebendig, das ganze Kinderdorf feiert. Gegen solche Hoffnungen hilft der Ich-Erzählerin nur das Grab des Vaters. Sie versucht, ihrer Mut- ter das Geheimnis zu entlocken.

Doch die Mutter flüchtet vor der Wahrheit in den Wahnsinn.

Jedes der Kinder hat Leid erfahren, sie schonen einander nicht. Doch wenn jemand in Not ist, sind sie solidarisch.

Gila Almagor: „Auf dem Hügel unter dem Maulbeerbaum“. dtv, 11,90 DM, ab 13

Zeitzeugen

Weil die Zeit ein Fluss ist, schwimmt die Vergangenheit immer mit. Jetzt fragen die Enkel die Großeltern nach ihrem Erleben, unabhängig davon, ob sie Täter waren, Mitläufer oder Opfer. Seit der Großvater seinen Zwillingsenkeln Lorenz und Valentin verraten hat, dass seine Eltern in Deutschland fünf Schritte südlich vom Birnbaum einen Koffer vergraben haben, bestürmen sie ihn mit Fragen. Fünfzig Jahre hat er sich bemüht, zu vergessen. Steinzeitgeschichte ist das für die beiden. Aber eben eine, die Großvater passiert ist. Sie setzen sich durch, schreiben den Hausbesitzern und werden eingeladen und von zwei Kindern ihres Alters begrüßt. Es scheint alles ganz einfach zu sein. Nur einen Birnbaum gibt es nicht. Sie buddeln sich wie die Wildschweine durch die Vorgärten und führen erfrischend unbefangene Dialoge über Nazis und zackige Nachbarn. Beim Abschied haben sie mehr gefunden als gesucht: neue Freunde.

Ingeborg Rotach: „Fünf Schritte südlich vom Birnbaum“. Palazzo, 26,80 DM, ab 12

Fisch im Fluss der Zeit

Als Selma ihren Urgroßvater kennen lernt, ist der auf dem besten Weg in sein drittes Jahrhundert. Hundertundein Jahre lebt er schon, davon fünfzig ohne seine Frau Selma. Sein Sohn Manfred wohnt im Altersheim und hat den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen. Nur zufällig erfährt Selma von der Existenz ihres Urgroßvaters. Opa Manfred redet nicht gern von früher. Was soll man mit einem Vater, der spinnt? Als seine Frau starb, kurz nach dem Krieg, hat der Urgroßvater die Realität ausgeblendet. Seitdem wartet er auf ihre Rückkehr. Der Anblick seiner Urenkelin löst bei ihm ein Gefühlserdbeben aus. Er hält sie für seine Frau und ist so glücklich, dass Selma ihm nur langsam die Wahrheit sagen kann. Liebe für immer, hier ist es Realität. Gerührt bleibt Selma bei dem alten Mann. Nichts interessiert sie mehr, als mit ihm in die Vergangenheit zu reisen. Durch ihn lernt sie ihre Familie ganz anders kennen, versteht, warum Opa Manfred der Vergangenheit ausweicht. Und sie sieht voller Sorge, wie der Uropa, einmal aufgewacht, mit jedem Tag schwächer wird.

Ein schönes Buch, das aus der Konfrontation verschiedener Jahrhunderte einen eigenen Zauber entwickelt.

Irma Kraus: „Kurz vor morgen“ aare, 25,80 DM, ab 14

Detektive auf Zeitreise

Gibt es einen guten Verrat und einen schlechten? Für Sunny ist Jan auf jeden Fall ein Judas, für seinen Vater auch. Beide nahmen sich Dinge, die ihnen nicht gehörten. Jan profitierte davon, seine Zukunft ist gesichert. Doch seit er im Keller die alten Fotos gesehen hat und in London Bilder verkauft wurden, die einmal in der heimatlichen Villa hingen, kann er nicht aufhören, Fragen zu stellen. Die ganze Familie mauert. Alle wissen um das Verbrechen des Großvaters. Jan zieht die Konsequenzen. Er schreibt nach Israel. Ein spannendes Buch über das aktuelle Thema Wiedergutmachung.

Cornelia Franz: „Verrat“. dtv, 11,50DM, ab 14

Wer ist wer?

Marie lebt bei ihrer Großmutter Greti. Da fühlt sie sich wohler als bei ihrer Mutter. Bis die Großmutter einen Luftpostbrief bekommt, über den sie sich so aufregt, dass sie kurz darauf stirbt. Nicht ohne ihre Tochter zu enterben. Marie besitzt nun ein altes, zugenageltes Haus. Seit dem Krieg durfte es niemand betreten, als wäre eine Leiche im Keller, witzelt der Rechtsanwalt. Mehr als Omas Ansehen steht auf dem Spiel. Turbulent stürzt sich Marie in die Vergangenheit. Die Spuren führen nach Israel. Mit ihrer Mutter im Schlepptau löst sie ein ganzes Lebensrätsel. Sehr spannend und voller Überraschungen.

Renate Günzel-Horatz: „Marie“. Patmos, 24,80 DM, ab 12

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