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village voiceHundert Jahre Berliner Phonogramm-Archiv

Verspielte Verbindungen

„Music!“ steht in großen Lettern auf dem Cover, als gelte es, niemand Geringeres als Madonna in ihre Schranken zu weisen. Und angesichts der Unterzeile „1900–2000“ soll die schnelllebige Popmusik wohl endgültig erblassen. Hundert Aufnahmen des Berliner Phonogramm-Archivs umfasst die vorliegende Dokumentation – das Ergebnis aus hundert Jahren musikethnologischer Forschung.

Begonnen hatte alles damit, dass Carl Stumpf am 24. September 1900 ein Ensemble aus Bangkok, das in den Zoologischen Gärten Konzerte gab, auf einer Wachsrolle verewigte. Seither wütet der Wille zur Aufzeichnung; heute umfasst das Berliner Phonogramm-Archiv über 150.000 Titel. Einem solch monströsen, breit gefächerten Fundus wird selbst die Musikwissenschaft nicht in jeder Hinsicht gerecht. Es trifft sich also gut, dass das Archiv anlässlich seines hundertjährigen Bestehens jetzt eine Auswahl seiner Aufzeichnungen auf vier satt gefüllten CDs auch dem nicht wissenschaftlich interessierten Hörer zugänglich macht.

Dabei wird deutlich, dass die Geschichte des Archivs nicht nur identisch ist mit der Geschichte der Musikethnologie, sondern über weite Strecken auch mit der Geschichte der Aufnahmetechnik und mit der Geschichte von Begriffen wie „Authentizität“ und „Tradition“.

In den frühesten Aufnahmen konkurriert grobkörnig nostalgischer Charme mit dem nervtötenden Schleifen der Wachsrollen. Man atmet beim Hören posthum auf, wenn 1951 endlich die ersten tragbaren Tonbandmaschinen eingesetzt werden und die Aufnahmenqualität der Musik zumindest annähernd gerecht wird. Aber Technikgeschichte und musikwissenschaftlicher Forschungsethos sind nur Teilaspekte dieser Veröffentlichung. Wer einigermaßen neugierig ist, kann hier selbst als unbedarftester Hörer auf seine Kosten kommen.

Die CDs ermöglichen den Zugang zu einem Klanggebäude, das sonst schwer oder nur unter den fragwürdigen Vorzeichen verklärenden Weltmusikgeschwärmes möglich wurde. So erfährt man endlich, dass eine Variante des rappeligen Breakbeats schon seit Jahrhunderten im nordnigerianischen Anka gepflegt wird oder dass die ersten dreiakkordigen Lo-Fi-Stücke schon 1955 von chinesischen Emigranten in der Türkei produziert wurden. Derartig verspielt geknüpfte Verbindungslinien bieten sich allerorts an: Das freie, verzierte Spiel javanischer Trompeter klingt wie ein Vorläufer des Saxofonsounds von Pharoah Sanders, das Schlagzeug birmanischer Ensembles erscheint als mögliches Vorbild der Neuen Musik.

Erst auf der letzten CD, die ausschließlich Konzertmitschnitte aus dem Berliner Museum für Völkerkunde enthält, wirkt die Musik durch technische Brillanz und konzertsaaltypische Intensität ein wenig poliert. Hier, wo der Anspruch auf Authentizität und Ursprünglichkeit aufgegeben ist, finden sich die aus musikalischer Sicht wohl spektakulärsten Stücke. BJÖRN GOTTSTEIN

„Music! The Berlin PhonogrammArchiv 1900–2000 (Wergo/Schott)

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