versunkene moderne – oder: der trink-aufkleber von JÜRGEN ROTH:
Heute ist das Auto der Aufkleber. Wer ein Spitzenmodell durch Hochhausschluchten chauffiert oder über die Münchner Shoppingmeile schiffert, hat genügend Signale an die Umwelt abgegeben: Ich bin BMW, mir tut nichts weh. Ihr seid ohne Töfftöff, get öfföff the road!
Vor zehn Jahren noch erregte der knallrote Frank-Zappa-Sticker am lindgrünen R 4 Sympathie bei Marburger Landkommunarden. Cool sei man, erklärten die Tramper, weil man die „richtige“, hey, „Mucke“ hörte. Passé, solche Kommunikation. Ein Fortschritt, gewiss; der aber nur verdeckt, wie sich der New-Economy-Franzel hinter dem Glanz einer Marke verschanzt, die nicht länger des optischen Melders bedarf, der Auskunft darüber gibt, woran ihr Besitzer zu glauben scheint.
Walter Benjamin avisierte eine Art Archäologie des Kapitalismus. Verlockende Betätigungsfelder stünden dem offen, der in unseren postmodernen Tagen einen ähnlichen Plan verfolgte. Da kein Lifestyle-Schwein bekennen mag, ein, zwei, viele „Kinder an Bord“ zu führen, CDU zu wählen, dem Sozialismus zu wehren oder die Pershing-Rakete eigenhändig zu zerbrechen, gewinnen die rar gewordenen Dokumente der Doktrinen unschätzbaren Wert. Ethnologen sollten Sticker erforschen, die während der Siebziger- und Achtzigerjahre derart penetrant Pkw, Fahrräder und Taschen bevölkerten, dass unsereins sehnlichst deren einfürallemaliges Verschwinden wünschte.
Neulich weilte ich um zehn Uhr morgens im Hessischen Rundfunk, und da ich meinem Interviewtermin entgegenödete, sah ich plötzlich hinter der Studioglasscheibe einen Aktenkarren. Auf diesem Requisit aus versunkenen Tagen prangte ein handtellergroßer Sticker. Er zeigte ein verunglücktes Imitat der früher beliebten Mordillo-Stripfiguren, einen Kerl, der eine Flasche hielt, sich zurücklehnte und nicht mehr Herr seiner Sinne war. Das kann nicht sein!, grübelte ich, der hat überlebt?! (Einst zierte er meinen Schulranzen!) Weit eindringlicher heulte mich jedoch der Spruch neben dem tapsigen Bild an: „Guten Morgen! ... trink’ mit Verstand!“, las ich. Welch Zeiten waren das, die Siebziger, die gelobte Epoche des stabilen Sozialstaats! Man durfte vor der Mittagspause und während der Arbeit saufen? Das aber bitte „mit Verstand“? Der Boss wollte lediglich sicherstellen, dass die Knechte halbwegs die Linie kratzten? Und erst ab vier die Kante anpeilten?
Selige Moderne! Die AOK, die Gewerkschaften, das Bundesgesundheitsministerium: Sie kannten ihn nicht, den Fitnessterror, den Zwang zur falschen Klarheit der Nüchternen, den Wahn der Wichtigwusler. Jeder sollte ruhig ungeniert bechern. Ohne Reue. Kontrolliert solidarisch, nicht bis zum Absturz, doch reichlich und genehmigt. Und man verlachte die Tolpatschigkeit einer Kampagne, die nicht Absenz propagierte, sondern jenen geordneten Umgang mit Rauschsubstanzen, der heute Anlass ist, um Beinahebundestrainer zu bashen und zu verbannen. Ach, seufzte ich, absolvierte das Radiogespräch und fuhr, halb elf zeigte die Uhr, zum nächstbesten, dem stets besten Biertresen.
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