Zu viel Frontalunterricht, zu wenig Problembezug

Die deutschen Schüler schneiden in Mathe und Physik schlecht ab. Weil sie kaum am Unterricht beteiligt werden, meint Max-Planck-Forscher Köller

taz: In Ihrer internationalen Vergleichsstudie schneiden die deutschen Schüler in Mathematik und Physik schlecht ab ...

Olaf Köller: ... vergleichsweise schlecht. Deutschland liegt im unteren Mittelfeld. Ähnlich niedrige Leistungen bringen zum Beispiel Schüler aus den USA.

Woran liegt das?

Das ist keine einfache Frage. Wir haben gute Indizien, dass in Deutschland ein Unterricht dominiert, der zu wenig auf Verständnis abzielt.

Sie meinen Frontalunterricht?

Ich meine eher lehrerzentrierten Unterricht. In Physik zum Beispiel macht der Lehrer ein Experiment vor, und die Schüler schreiben die Versuchsanordnung ab. Aber sie dürfen wenig selbst experimentieren, eine aktive Teilnahme der Schüler findet nach unseren Befunden kaum statt. Deutsche Schüler weisen Schwächen bei Problemlösungen auf; mit Routineaufgaben kommen sie besser zurecht.

Was machen andere europäische Länder besser?

Dort ist der Unterricht stärker anwendungsorientiert. Die Schüler sind stärker am Unterrichtsgeschehen beteiligt und wenden das erlernte Wissen auf Alltagsprobleme an.

Müsste man also die Lehrer ändern?

Natürlich könnte man die Lehrerbildung verbessern. Aber das Problem liegt nicht nur bei den Lehrkräften. Auch die Schulen müssten so ausgestattet werden, dass die Schüler Experimente selbstständig durchführen können. Die Verfügbarkeit von Computern ist ein weiteres Problem, vor allem in der Oberstufe.

Sie haben nur Mathematik und Physik untersucht. Gibt es Anhaltspunkte dafür, dass die Lage in anderen Fächern ähnlich schlecht ist?

Anfang der Neunzigerjahre gab es eine internationale Studie zum Leseverständnis. Auch da war Deutschland nicht Spitze. Wir haben im Moment also keinen Grund anzunehmen, dass es in anderen Domänen besser aussehen könnte. Konkrete Ergebnisse wird allerdings erst die „Pisa“-Studie bringen, mit der wir gerade begonnen haben.

Konservative Bildungspolitiker führen das niedrige Niveau darauf zurück, dass immer mehr Schüler das Abitur machen. Können Sie diese These bestätigen?

Im internationalen Vergleich gibt es dafür keine Bestätigung. In Schweden erreichen 70 Prozent der Schüler einen Abschluss, der sie zum Studium berechtigt. Dennoch bringen die Schweden exzellente Leistungen. Auch in Deutschland haben wir keine Anhaltspunkte dafür, dass Bundesländer mit hohen Zahlen von Gymnasiasten schlechter abschneiden. Die Öffnung des Gymnasiums kann man eher als Stärke eines Bildungssystems deuten, sofern gewisse Mindeststandards erreicht werden. Das erfordert allerdings auch besondere Anstrengungen, die damit verbundenen Probleme bei schwächeren Schülern zu kompensieren.

Insgesamt würden Sie aber der These zustimmen: Unter tausend Schülern lässt sich leichter ein Einstein finden als unter hundert?

Selbstverständlich. Offene Systeme produzieren mehr Exzellenz als geschlossene. Die Schweiz ist allerdings ein Beispiel, wo der Zugang zum Gymnasium sehr restriktiv gehandhabt wird und trotzdem sehr gute Leistungen erbracht werden.

Wie sieht es mit der Gesamtschule aus?

Wir können aufgrund der „Timss“-Untersuchung keine Aussagen über Gesamtschulen machen. Dafür ist die Stichprobe zu klein. Aber wir hatten voriges Jahr in einer nationalen Leistungsstudie Gesamtschulen und Gymnasien verglichen. Der Befund war, dass es aufseiten der Gesamtschulen das Problem gibt, dass viele Schüler die Mindeststandards in Mathematik nicht erreichen. Die Schüler müssten dort schon in der Mittelstufe stärker gefördert werden.

Auch für einen Bundesländervergleich war die Stichprobe zu klein. Trauen Sie sich an ein solches Ranking nicht heran, weil sich die Kultusminister noch immer dagegen sträuben?

Nein. Mit dem „Pisa“-Programm werden wir den Bundesländervergleich im Jahr 2001 bekommen. Dort werden die Stichproben so groß sein, dass man wirklich länderspezifische Aussagen treffen kann.

Zumindest bei Mathematik und Physik hat bereits Ihre „Timss“-Studie große Ost-West-Unterschiede ergeben – schon allein, was das Interesse an diesen Fächern betrifft: Sie werden im Osten viel öfter als Leistungskurs gewählt. Warum?

Ein Grund liegt in der stärker mathematisch-naturwissenschaftlichen Tradition der ehemaligen DDR. Die Naturwissenschaften waren fest integrierte Bestandteile schon des Grundschul-Curriculums. Zum anderen sind die Möglichkeiten, auch Nischenfächer als Leistungskurs zu wählen, in den neuen Bundesländern stark eingeschränkt.

Wenn man Defizite in Mathematik und Naturwissenschaften beklagt – müsste man diese Fächer nicht auch in den alten Bundesländern wieder stärker zur Pflicht machen?

Die gymnasiale Oberstufe ist nicht das eigentliche Problem, sondern eher die Organisation des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Grundschule und in der Mittelstufe. Der Sachunterricht der Grundschule berücksichtigt die Physik und die Chemie überhaupt nicht. Selbst am Gymnasium setzt dieser Unterricht erst spät und teilweise unregelmäßig ein. Die Schüler bekommen also überhaupt keinen Bezug zum Fach.

Welche Konsequenzen würden Sie aus der Studie ziehen, wenn Sie in der Lage eines Kultusministers wären?

Nach unserer „Timss“-Untersuchung für die Mittelstufe haben die Kultusminister ein Programm zur Optimierung des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts aufgelegt. Ich kann mir vorstellen, dass so etwas nun auch in der Oberstufe passieren wird.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN