: Bleiche Todesfinger
Ein dringend nötiger Appell: Rettet den Speisewagen!
Die Nachrichtenwelt ist voller erschütternder Meldungen, und dies ist die erschütterndste: Die Bundesbahn will ihre Speisewagen abschaffen. In Zukunft soll in der ersten Klasse, wie im Flugzeug, am Platz etwas serviert werden, das den Namen Mahlzeit nur bedingt verdient. Die Gäste der zweiten Klasse werden vollends zum Fußvolk herabgestuft und dürfen im Bistrowagen Erzeugnisse aus Presspappe und Vollgummi verzehren, die dort Sandwiches oder Nürnberger Rostbratwürste heißen. Immer wieder Furcht einflößend ist der Anblick, wenn sechs bleiche Todesfinger vom Bistrowagenkellner aus ihrer Plastikverschweißung herausgepult und, von schlierigem Glibber umseicht, in die Mikrowelle verbracht werden.
Dabei hatte sich die Bahn gebessert. Seit einiger Zeit war das Essen im Speisewagen genießbar, mitunter, gemessen an den Arbeitsbedingungen in der Speisewagenküche, sogar gut. Die Führung der Bahn aber ist nicht daran interessiert, die Vorteile der Bahn auszuspielen – sie will ihre Klienten offenbar mit aller Macht ins Auto treiben, und zwar nicht nur die Laufkundschaft, sondern auch all die, denen Bahnfahren explizit gefällt. Wie sonst soll man verstehen, dass man von Bundesbahnschaffnern Telefonkarten mit Werbung für Benzinhändler verkauft bekommt: „Tiger Wäsche – Esso – Ihre Energie“?
Nicht nur der Bundeskanzler ist ein Autofetischist, der im Audi V 8 durchs Land sirrt und sich dabei auf der Überholspur des Lebens wähnt. Auch die Chefs der Bahn mögen ihr eigenes Kind nicht leiden und behandeln es schäbig. Der Bahn den Speisewagen zu nehmen ist Mord an der Bahn. Statt ihn abzuschaffen, gälte es, ihn richtig schön zu machen: Liege- und Schlafwagen auch tagsüber ankoppeln, in denen man sich füttern und tränken lässt, bequem herumlümmelt, schlummert und schnorchelt wie ein freundliches Postpferd.
Doch selbst im Speisewagen in seiner unvollkommenen Form habe ich mehr Zeit zugebracht als in vielen anderen Restaurants zusammengenommen, und ich tat es freiwillig und gern. In den vier Stunden, die man auf der Fahrt von Berlin nach Essen verbringt, kann man im Speisewagen schon vier kleine Flaschen Wein getrunken haben. Oder fünf oder sechs. Oder einen Krimi weggelesen, einen Liebesbrief geschrieben oder, wenn es wirklich gut lief, etwas gedichtet haben – zum Beispiel vier Zeilen über die Bundesbahnchefsorte Mensch: Wer Aktien käuft oder verkäuft / Der sei in altem Bier ersäuft / Vom Kopf bis hin zur Mitte / Langsam und qualvoll, bitte. WIGLAF DROSTE
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