: Der Mann, der zu lange schwieg
von JENS KÖNIG
Reiner Oschmann wusste seit über zehn Jahren, dass irgendwann der Anruf kommen würde. Er wusste, dass irgendeine unbekannte Stimme ihn fragen würde, ob es stimme, dass er als Inoffizieller Mitarbeiter für die Stasi gearbeitet hat. Er wusste, dass er dann seine Geschichte erzählen würde, auf die er nicht stolz ist, die ihn aber auch nicht besonders beschämt. Er hat schließlich niemanden bespitzelt oder denunziert. Er, der Journalist, hat für die Stasi Berichte geschrieben, das schon, aber zu einer Zeit, als er Auslandskorrespondent in London war; für DDR-Verhältnisse nichts Außergewöhnliches also.
Reiner Oschmann hat in all den zehn Jahren nichts unternommen, was den Anruf überflüssig gemacht hätte. Er hat einfach nur gewartet. Er hat immer gedacht, er könne sowieso nicht mit Verständnis rechnen. Ihm ist nicht in den Sinn gekommen, dass die deutsche Öffentlichkeit nach den vielen Stasi-Geschichten der letzten Jahre etwas gelernt haben könnte. Er selbst hat nicht ausprobieren wollen, ob die Öffentlichkeit heute, zehn Jahre nach der Wende in der DDR, genauer hinschaut, ob sie die Lebensgeschichten jedes Einzelnen betrachtet, ob sie vielleicht nicht gleich verzeiht, aber versteht.
Der Anruf kam vor zwei Wochen. Eine unbekannte Stimme am Telefon fragte Oschmann, ob er „IM Helfried“ sei und während seiner Tätigkeit als Korrespondent in London Mitte der Achtzigerjahre Berichte für die „Hauptverwaltung Aufklärung“, den Auslandsgeheimdienst der DDR, geschrieben habe. Oschmann erzählte daraufhin seine Geschichte, die er seit zehn Jahren mit sich herumtrug.
Heute, 14 Tage später, sieht sich Oschmann in seinem Urteil bestätigt: Man könne in Deutschland für seine Stasi-Geschichte immer noch nicht mit Verständnis rechnen, sagt er bitter. Er fühlt sich hintergangen und sieht mit an, wie ein westdeutscher Journalist aus ihm einen x-beliebigen Stasi-Fall gemacht hat: Der Spiegel enthüllt, der Betroffene laviert, die Öffentlichkeit weiß Bescheid.
Hat Oschmann Recht? Hat er in den vergangenen zwei Wochen auch nur eine Minute daran gedacht, dass es besser gewesen wäre, früher zu reden? Musste es so kommen, wie es jetzt gekommen ist?
Der Spiegel meldet in seiner heutigen Ausgabe, Reiner Oschmann, Pressesprecher der PDS-Fraktion im Bundestag, habe als Inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit der DDR gearbeitet. Oschmann bestreitet nicht, als Korrespondent in London Lageeinschätzungen für die HVA geschrieben zu haben. Aber ob er Inoffizieller Mitarbeiter war, wisse er nicht. Der Spiegel weiß es: Oschmann war „IM Helfried“, seine MfS-Registriernummer lautet XV/17/70. Das Nachrichtenmagazin wirft Oschmann zu Recht vor, er habe seine Stasi-Mitarbeit am Freitag in einer Pressemitteilung erst zugegeben, als er erfahren hatte, dass sie am Montag im Spiegel stehen würde.
Also alles wie immer? Ein Fall wie Hunderte zuvor auch? Ja. Und nein.
Der Anruf, mit dem Reiner Oschmann seit über zehn Jahren gerechnet hatte, kam nicht vom Spiegel, sondern von einem amerikanischen Journalisten. John Goetz, der in Berlin lebt und für deutsche Medien arbeitet, meldete sich vor vierzehn Tagen bei Oschmann und erzählte ihm, dass er zusammen mit einem Kollegen an einer Geschichte für die britische Sunday Times arbeite. Darin gehe es um die Spionageaktivitäten des DDR-Geheimdienstes in Großbritannien. Britische Fahnder hätten die HVA-Datenbank „Sira“ nach Hinweisen auf Stasi-Agenten im Königreich durchforstet und seien dabei auf Berichte eines „IM Helfried“ gestoßen. Ob er das sei, fragte Goetz, und ob er mit ihm darüber reden wolle.
Oschmann willigte ein. Er wusste, was ihm bevorstand, aber er fühlte sich irgendwie auch erleichtert, endlich einmal darüber reden zu können. Oschmann sprach mit dem Journalisten mehr als zwei Stunden und erzählte ihm, was er auch in den Tagen danach immer wieder sagen sollte.
Oschmann war 31 Jahre alt und außenpolitischer Nachrichtenredakteur beim SED-Zentralorgan Neues Deutschland, als ein Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit bei ihm auftauchte. Der Geheimdienstmann fragte, ob Oschmann nicht Artikel zu außen- und deutschlandpolitischen Themen schreiben wolle. Diese seien zur Veröffentlichung in westdeutschen Zeitungen gedacht. Oschmann, ein überzeugter Genosse, willigte er. Er zierte sich erst, diese Zusammenarbeit vertraulich zu behandeln. Aber er tat es schließlich doch, gab sich den Decknamen „Helfried“ – so lautet sein zweiter Vorname – und unterschrieb eine förmliche Vereinbarung. Ob er damit unterzeichnet habe, künftig als IM für die Stasi zu arbeiten, weiß Oschmann angeblich nicht mehr. Der Begriff IM sei ihm damals gar nicht bekannt gewesen, sagt er heute.
Zwischen 1979 und 1981 schrieb Oschmann seiner Erinnerung nach vier bis fünf Artikel. Er berichtete darin über das militärische Vorherrschaftsstreben der USA, porträtierte den US-Außenminister Alexander Haig und beschrieb den erstarkenden Rechtsextremismus in der Bundesrepublik. Ob diese Artikel von der Stasi jemals in westdeutsche Zeitungen lanciert worden sind, ist Oschmann bis heute unbekannt. Dass er für seine Texte Geld bekommen hat – zwischen 200 und 400 Mark pro Artikel –, räumt er erst auf Nachfrage ein. Oschmann sieht in dieser Tätigkeit für die HVA nach wie vor nichts Unlauteres. Seine Beiträge hätten allgemeinen humanistischen Anliegen gedient, sagt er.
Als Oschmann 1981 als Korrespondent für Neues Deutschland nach London ging, wurde er dort von einem Mitarbeiter der DDR-Botschaft angesprochen. Oschmann war klar, dass es sich dabei um einen Mitarbeiter der Staatssicherheit handelte. Der HVA-Mann bat den Korrespondenten um gelegentliche Lageeinschätzungen über die Regierungs- und Oppositionspolitik in Großbritannien. Oschmann hält das aus heutiger Sicht immer noch für so normal wie damals. Das Schreiben solcher Berichte sei auch bei Korrespondenten aus westlichen Ländern durchaus üblich gewesen, rechtfertigt er sich.
Am 2. April 1983 besuchte der DDR-Korrespondent die legendäre Lloyd’s-Versicherung in London. Am Rande des Besuchs wurde Oschmann von einem Mitarbeiter des britischen Inlandsgeheimdienstes MI 6 angesprochen. Wenn er die Seiten wechseln wolle, könne er sich jederzeit an ihn wenden, sagte der Geheimdienstmann und schob wortlos einen verschlossenen Briefumschlag über den Tisch. Oschmann lehnte das Angebot ab und schob den Umschlag ungeöffnet wieder zurück. Was darin war, weiß er bis heute nicht.
Oschmann meldete den Abwerbeversuch der DDR-Botschaft in London und drängte den HVA-Mann, die Zusammenarbeit mit ihm zu beenden. Oschmann bedrückte die Heimlichtuerei seiner Arbeit. Die Stasi brach daraufhin den Kontakt zu dem Korrespondenten, der noch bis 1985 in London blieb, ab. Oschmann sagt, er habe in der ganzen Zeit nie über eigene Kollegen berichtet oder jemanden denunziert. Die Hinweise in der „Sira“-Datei bestätigen das.
1999, bevor er Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion wurde, hat sich Oschmann den Parteispitzen Gregor Gysi und Lothar Bisky offenbart. Beide hielten es nicht für notwendig, seine Arbeit für die HVA öffentlich zu machen.
Oschmann erzählt diese Geschichte genau so dem amerikanischen Journalisten John Goetz. Goetz sagt hinterher, es sei ein sehr offenes Gespräch gewesen. Er habe selten einen IM erlebt, der so bereitwillig über alles Auskunft gegeben hätte.
In der mehrseitigen Geschichte der Sunday Times über die Stasi-Aktivitäten in Großbritannien, die am vorletzten Sonntag erschien, wurden aus dem offenen Gespräch ganze elf Zeilen. Darin behauptet die Zeitung, Oschmann habe für die Stasi in London gearbeitet und die Korrespondententätigkeit nur als Tarnung benutzt. Die Sunday Times erwähnt den Abwerbeversuch des MI 6 und zitiert Oschmann mit den Worten, der Geheimdienstmann hätte ihm „einen prall gefüllten Umschlag mit Banknoten“ überreicht. Goetz sagt, die Redaktion in London habe seinen Text radikal gekürzt. In seiner Fassung stehe weder, dass Oschmann hauptamtlich für die Stasi gearbeitet, noch dass er gewusst habe, was in dem Briefumschlag des MI 6 gewesen sei.
Einen Tag nach der Veröffentlichung der Sunday Times bekam Oschmann erneut einen Anruf. Die taz bat Oschmann um ein längeres Gespräch über seine Stasi-Tätigkeit. Oschmann könne darin das einlösen, was die PDS, was der Osten immer einfordere: Die eigene Lebensgeschichte ausführlich, differenziert und ohne äußeren Druck zu erzählen, jenseits der Schlagzeilen, die aus einer Biografie oft einen eindeutigen „Fall“ machen würden.
Oschmann lehnte ab. Die Sunday Times-Geschichte hätte doch bewiesen, dass Offenheit nicht honoriert werde, sagte er als Begründung. Gregor Gysi und PDS-Fraktionschef Roland Claus sahen das genauso. Sie rieten Oschmann ab, mit seiner Stasi-Geschichte von selbst in die deutsche Öffentlichkeit zu gehen. Der Rest ist bekannt: Der Spiegel enthüllt, der Betroffene eiert rum, der Fall Oschmann kann zu den Akten gelegt werden. PDS-Fraktionschef Claus erklärt, die Angelegenheit werde keine Auswirkungen auf die Besetzung des Sprecherpostens haben.
Zeigt das späte und zögerliche Bekenntnis Oschmanns einmal mehr die Unfähigkeit der PDS im kritischem Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit? Ja. So gesehen ist Oschmann einer von vielen typischen Stasi-Fällen des Ostens. Er ist aber auch einer von denjenigen, deren Offenheit, auch wenn sie viel zu spät kam, von der Sunday Times nicht honoriert wurde. Oschmann ließ sich davon einschüchtern und zieht sich jetzt verletzt auf die Standardfloskeln ertappter Sünder im Osten zurück. „Es gibt etwas in meinem Leben, das man eigentlich erzählen können muss“, sagt er, „aber ich schade mir damit nur selbst.“ Wer frage eigentlich westdeutsche Journalisten, so Oschmann, ob sie jemals Berichte für einen Geheimdienst geschrieben hätten? Warum müssten nur die Ostdeutschen einen ständigen moralischen Striptease vollführen?
Die Fragen sind berechtigt, aber sie entlassen Oschmann nicht aus seiner moralischen Verantwortung für sein Schweigen. Warum hat er nicht von sich aus seine Geschichte erzählt? „Wo steht geschrieben, dass man das tun muss?“, fragt er.
Nirgends, aber wo steht geschrieben, dass man es nicht tun sollte?
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