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Im Hunger nach Sprachen

Die Traditionen von Surrealismus, Expressionismus, Dadaismus verteilte er freigiebig. Unter den Mitgliedern der Wiener Gruppe war er der Intuitivste. H.C. Artmann, der große Choreograf der Wörter, ist tot. 79-jährig starb er in Wien

von RICHARD REICHENSPERGER

„Des wird a Dichta“, hatte die Mutter (angeblich, aber H.C. Artmann liebte ja Mythen) in ihrer Schwangerschaft gesagt. Und der am 12. Juni 1921 im Wiener Vorort Breitensee geborene Schustersohn war früh entschlossen, sowohl Dichter wie Rebell zu werden. Rebellion: sowohl gegen die unendliche Ödnis der Wiener Vorstadt als auch gegen jeden Normenzwang. Auch gegen Einsamkeit (kaum noch vorstellbar bei Artmann, der später immer so viele Freunde um sich sammelte): „Ich bin aufgewachsen. Jeder Sommer ist vergangen wie der andere. Ich bin nicht rausgekommen. Ich bin durch den weichen Asphalt marschiert und habe Holunder gerochen.“

Ja – wie wird jemand ein Dichter? Dass Hans Carl Artmann dies auch noch in den letzten, von schwerer Krankheit gezeichneten, zerfurchten und zerknickten Jahren wie niemand sonst als Typus verkörperte, war allen evident. Zwar staunte man noch über die gemeißelten Zeilen der knappen Rede zum Büchnerpreis 1997, aber auch ohne Schrift galt das, was Artmann schon 1946 in seiner „8 Puncte Proclamation des poetischen Actes“ als anthropologische Einsicht festgelegt hatte: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass jemand Dichter sein kann, ohne jemals einen Satz gesprochen oder geschrieben zu haben.“

Nämlich durch den Blick, durch Unkorrumpierbarkeit, durch frühes Durchstoßen von Ödnis und Angst, von Stummheit und Schrecken, hier genährt durch die Wiener Bassenawohnungen mit ihren Gängen – Entsetzen, von Erwachsenen eingeredete Ängste, nicht nur seiner Kindheit, die Artmann 1964 in Malmö im (fiktiven) Tagebuch „Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf dem heißen brotwecken“ so bewältigte: „Draußen am gang zeigen sich hin und wieder musikanten, feuerfresser, bettler, nachbarinnen mit hochgesteckten zöpfen, gefährliche wassermänner, geheimspitzel, soldaten und alte hexen. 4. November 1925, 1928 oder sonst irgendein datum.“

Sein Leben lang wird Artmann eigene und fremde Erfahrungen in künstliche, komplexe Systeme übersetzen, verfremden, objektivieren, wird sie in soziales Gedächtnis einbuchstabieren: Kunstdialekt (im Sensationserfolg „med ana schwoazzn dintn“ 1958), barocke Sprachmuster („Der aeronautische Sindtbart oder Seltsame Luftreise von Niedercalifornien nach Crain“, 1972), Trivialmythen („Dracula Dracula. Ein transsylvanisches Abenteuer“, 1966).

Es ist typisch für Artmanns Einstellung zur Literatur, dass er einen zentralen Abschnitt seines Lebens, nämlich die Kriegszeit – als der Aufsässige schnell in einem Strafbataillon landete – in einer sehr komplizierten Form bearbeitete, und zwar in der historisch gesättigten des Barockromans („Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern“, 1959).

Aufgewachsen, in den leeren Vorstadtsommern, war Artmann im Hunger nach Sprachen: Er hörte das Tschechische der Gesellen seines Vaters (gut drei Jahrzehnte später wird er Gedichte in künstlichem „weanabemisch“ schreiben), Italienisch, Ungarisch. Aber auch dies ist die Aufbrechung eines eher armseligen Milieus: Der 13-jährige Hauptschüler legt sich ein Vokabelheft an – Assyrisch. Und ein Onkel schenkt ihm eine walisische Grammatik.

Seine Lehrer können es, wie Schulfotos im kecken Blick beweisen, nicht leicht gehabt haben, keine Art von Vorgesetzten, denn Artmann war – als der geistig Unabhängige – für alle selbst eine Leitfigur. Im geistig öden Nachkriegs-Wien wirkte die Erscheinung des aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten als befreiendes Wunder. Die verdrängten Traditionen – Surrealismus, Expressionismus, Dadaismus – trug er im geistigen Tornister mit und verteilte sie freigiebig. Ab 1949 trafen sich um die Zeitschrift Neue Wege in der Hofburg (!) alle künftigen Revoluzzer und Freunde: Gerhard Rühm, Oswald Wiener, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner. Das wurde später Wiener Gruppe genannt, auch wenn sie nur der Aufstand gegen bürgerlichen Mief vereinte – und, auf unterschiedliche Weise, die Betonung der Sprache im poetischen Text. Artmann war unter ihnen sicher der Intuitivste: „ich fühle wie lang eine zeile zu sein hat und wie die strophe ausgehen muss.“

Die traurigsten und wildesten, die kontemplativsten und explosivsten Gedichte finden sich in seinem großen poetischen Werk: „ich rede nicht von meinen gefühlen; ich setze vielmehr worte in szene und sie treiben ihre eigene choreographie.“ Wie aber sollen sie die weitertreiben, jetzt, ohne ihren großen Choreografen? Montagnacht starb Artmann 79-jährig in Wien.

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