„Der Druck schwenkt um“

Der Rechtsextremismusexperte Hajo Funke glaubt nicht, dass Joseph bei einem Unfall ertrunken ist: In Sebnitz haben jetzt die Rechten das Sagen, außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft schlampig

Interview ANNETTE ROGALLA

taz: Sie haben einige Tage mit der Familie Kantelberg-Abdulla verbracht. Welche Stimmung haben Sie in Sebnitz angetroffen?

Hajo Funke: Ich bezweifle, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen, die derzeit in dieser Kleinstadt herrschen, wirklich die richtigen Erkenntnisse auf den Tisch kommen, die beweisen können, wie Joseph Kantelberg-Abdulla ums Leben kam.

Sie glauben den Eltern des Jungen, die weiterhin an der Mordthese festhalten?

Ich weiß nicht, ob Joseph ermordet wurde, aber ich vermute nach wie vor, das er eines nichtnatürlichen Todes gestorben ist. Das ergeben bereits die Indizien aus der ersten, schlecht gemachten staatsanwaltlichen Ermittlung 1997 aus Pirna. Jetzt geht die rechte Szene in Sebnitz hin und setzt Leute unter Druck, die in diese Richtung aussagen wollen.

Haben Sie gesehen, dass Zeugen bedroht wurden?

Ich weiß von Schlägereien der Rechten gegenüber anderen. Das haben mir einzelne Zeugen der Familie selbst gesagt; sie werden bedroht.

Diese Berichte verschaffen Ihnen die Grundlage zu vermuten, dass Joseph Abdulla von Neonazis umgebracht wurde?

Das weiß ich nicht. Aber ich kann es positiv formulieren: Wenn die Ermittlungsbehörden den möglichen Zeugen gegenüber kein Schutzprogramm anbieten, werden sie wenig aus denen herauskriegen. Weil alle, die sich jetzt noch abweichend äußern, gefährdet sind. In dieser Kleinstadt ist die rechte Szene sehr gewaltbereit.

Ist eine dumpfe Stimmung ein Indiz dafür, dass es so gewesen sein kann, wie die Familie Kantelberg-Abdulla behauptet?

Die Stimmung nährt auch meine Vermutung, dass Joseph möglicherweise getötet wurde. Deshalb ist es so wichtig, dass man das alles systematisch und gut erfasst. Ich frage mich, ob die derzeitige Strategie der Ermittlungsbehörden zureicht, denn sie erfasst diese Stimmung nicht. Man braucht Kronzeugen-Programme und solche Instrumentarien. Die Staatsanwaltschaft muss zeigen, dass sie genügend Zivilcourage besitzt, frei in jede Richtung zu arbeiten. Daran hege ich starke Zweifel.

Angenommen, es stellt sich heraus, dass zum Todeszeitpunkt junge Männer mit kurzen Haaren und eintätowiertem Hakenkreuz im Schwimmbad von Sebnitz waren. Möglicherweise haben sie Joseph Abdulla ins Becken geworfen. Haben wir es dann mit einer rechtsradikalen Tat zu tun?

Wenn ihr Motiv Ausländerfeindlichkeit gewesen ist, dann kann man das sagen. Ich sage damit noch nicht, dass der Tod von Joseph eine solche Tat war. Wenn man allerdings die vielfältigen Zeugenaussagen nimmt, die der jetzigen Berichterstattung der Bild vorlagen und parallel dazu die eidesstaatlichen Versicherungen im Kern ernst nehmen würde, dann ist das eindeutig eine rechte Tat gewesen.

Zeugen, die die Familie Abdulla suchte, fallen gerade um.

Man muss sehen, dass die Zeugen mehrfach in verschiedenen Zusammenhängen, unter anderem auch in Aussagen vor Rechtsanwälten, immer wieder ähnliche und auch sehr detailreiche Dinge geschildert haben. Und zumindest hat ja auch der Anfangsverdacht die Staatsanwaltschaft erreicht, und die drei jungen Leute wurden zunächst verhaftet. Diese Plausibilität hat jeden zunächst erreicht. Von Stoiber bis zum Bundeskanzler haben sie alle darauf reagiert.

Vielleicht weil ein Reflex eingeschnappt ist: Die Schlagzeile „Neonazis ertränken Kind“ beschreibt einen Tabubruch, der heftige Schauer über den Rücken schickt.

Und jetzt erleben wir, wie der Gruppendruck umschwenkt. Gerade deswegen muss man diese zunächst plausibel erscheinenden Daten gründlich ausermitteln. Wer jetzt verharmlost, lässt die Rechten triumphieren.

Schließen Sie aus, dass die Familie Kantenberg-Abdulla den Tod des Jungen nicht verkraftet und aus dieser Depression heraus alles auf einen Mord hinlenkt?

Das schließe ich als unwahrscheinlich aus. In diesem Fall wurde zu häufig schlampig ermittelt. Warum wurde der Staatsschutz erst eingeschaltet und wieder herausgenommen? Warum hat man die Obduktion nach Einstellung der Ermittlungen gemacht? Es gibt zu viele Ungereimtheiten. Hinzu kommt, dass nach der Tat Kinder in der Schule berichtet haben, Joseph sei untergetaucht worden. Das haben mehrere Kinder unabhängig voneinander gesagt. Man mag das als schwaches Indiz nehmen. Aber es gehört behandelt.