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Eine Welle der Wut

Wenn der Gipfel von Nizza scheitert, könnte dies auch das Endeder zehnjährigen Reformbemühungen in Mittelosteuropa bedeuten

PRAG taz ■ Es gibt wohl kaum ein Thema, das sich in diesen Tagen in den tschechischen Medien größerer Popularität erfreut als der Gipfel von Nizza. Von allen Seiten tönt es, wie historisch, ja epochal dieses Treffen gerade für die mitteleuropäischen EU-Kandidaten sei. In Prag wartet man voller Ungeduld darauf, dass die EU ihre Strategie und vor allem das Datum für die Aufnahme Tschechiens endlich festlegt. Alle wissen: In Nizza geht es um die Reform der Institutionen der EU. Und diese Reform ist die Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitglieder. In Tschechien zweifelt niemand an den Äußerungen, die regelmäßig aus Brüssel zu hören sind: „Bevor wir euch aufnehmen, müssen wir bei uns selbst Ordnung schaffen.“

Mitte der 90er-Jahre fuhr eine ganze Reihe von europäischen Politikern wie ewa Helmut Kohl oder Jacques Chirac durch die postkommunistischen Staaten und versprach, dass die EU im Jahr 2000 aufnahmebereit sein werde. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Menschen nicht nur in Tschechien die bittere Pille schluckten und begriffen, dass dieses Datum völlig unrealistisch war.

Die tschechischen Diplomaten und Politiker mit Präsident Václav Havel an der Spitze bemühen sich seitdem entschlossen darum, ein endgültiges Szenarium für den Ablauf der Erweiterung zu erhalten. „Wir wollen ein Datum, ein Datum, ein Datum“, so tönt es jedem Besucher aus Brüssel in Prag, aber auch in Warschau entgegen. Tschechien hat sich 2003 als „Arbeitsdatum“ für den Beitritt vorgenommen. Man rechnet daher weiter damit, dass während des Jahrs 2002 die Verhandlungen nicht nur abgeschlossen, sondern die nötigen Verträge auch ratifiziert werden.

Genau aus diesem Grund ruft es bei der tschechischen Öffentlichkeit beträchtliche Unruhe hervor, wenn man jetzt immer häufiger prophezeit, dass in Nizza der Reformprozess misslingen könnte. Damit wäre die Hoffnung, dass die EU an der Côte d’Azur die Türen für die Mitteleuropäer weit aufmacht, endgültig gescheitert.

Der EU-Gipfel kann daher gleichbedeutend sein mit einem Aufschub der Osterweiterung. Dabei sind sich die EU-Vertreter ebenso wie die Politiker Mitteleuropas bewusst, dass eine weitere Verzögerung ein Spiel mit dem Feuer wäre. Die Prager Politiker haben den Tschechen das Versprechen gegeben, dass ihr Land um 2003 zur EU gehören wird. Die Reform des ökonomischen Systems, das den Menschen oft harte Opfer abverlangte, wurde gerade mit der EU-Aufnahme begründet. Das war zwar nicht selten demagogisch, denn die Reformen sind natürlich auch ohne EU-Aufnahme notwendig; ein Scheitern von Nizza würde bei den Tschechen nun jedoch zu der Frage führen, ob die zehn Jahre der Reform, des Wartens und Hoffens, tatsächlich Sinn hatten, wenn „diese Union uns nun doch nicht will“. Dies würde zu einem Anwachsen der antieuropäischen Stimmung und zur Ablehnung der EU führen. Über Mitteleuropa würde sich eine Welle der Wut auf „Europa“ ausbreiten, Wasser auf die Mühlen von Populisten und Nationalisten also. Und von diesen gibt es in Ostmitteleuropa genug, wie zuletzt die Wahlen in Rumänen und der Erfolg des Nationalisten Tudor gezeigt haben. Selbst Präsident Havel hat in einem Interview für die Times unlängst bemerkt, dass das Scheitern von Nizza die Stabilität auf dem Kontinent gefährden könnte. Wir alle hoffen, dass in Nizza nicht die letzten zehn Jahren der Reformen in Mitteleuropa beerdigt werden. DAVID STULÍK

Der Autor ist Chefredakteur der tschechischen Zeitschrift Integrace

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