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I Can`t Sleep, I Can`t Stop My Brain

Der sechsjährige Marcel ist ein hochbegabtes Kind. Dennoch gilt er als schwierig und hat in der Schule Probleme – wie durchschnittlich 2 Prozent aller Kinder eines Jahrgangs. Eine neue Beratungsstelle bietet ihnen Hilfe

„Mama, was passiert eigentlich mit den Toten unter der Erde?“ Anja Schmidt (Name geändert) versucht, gelangweilt zu gucken und sagt: „Das weiß ich nicht.“ Manchmal hat diese Antwort ihren sechsjährigen Sohnes Marcel schon davon abgehalten, immer detailierter nachzufragen. Beispielsweise als er wissen wollte, wohin das Regenwasser vor dem Haus verschwunden ist. Doch diesmal hilft die Ausflucht nicht. „Konnte ich mir schon denken. Du weißt ja nie was.“

Der Erstklässler Marcel Weber gilt als schwierig. In seiner Klasse kommt der unruhige Junge nur mit einem Schulkameraden klar. Gemeinsame Spiele mit Gleichaltrigen enden bereits nach kurzer Zeit mit einem handfesten Streit. Fühlt Marcel sich ungerecht behandelt, rastet er völlig aus, wirft sich auf die Erde und weint. Keine Probleme hat der Junge mit einem zwei Jahre älteren Mädchen aus der Nachbarschaft. Wenn er bei ihm eingeladen ist, dann sitzen die beiden Kinder stundenlang am Computer oder spielen Karten. Liest ihm das Mädchen aus ihrem Dinosaurierbuch vor oder erläutert es ihm die Schachregeln, dann wird aus dem unruhigen Geist ein gefolgsamer Zuhörer. „Ihr Sohn ist so wissbegierig und klug“, lobt die Mutter des Mädchens Marcel. „Bestimmt ist er hochbegabt.“

Als „hochbegabt“ gelten Kinder mit einem Intelligenzquotienten ab 130. Das sind nach Schätzungen etwa 2 Prozent der Kinder eines Jahrgangs. Diese Kinder sind gleichaltrigen in ihrer Entwicklung oft weit voraus: Sie lernen häufig eher sprechen und laufen und kommen bereits als Kleinkinder mit wenig Schlaf aus. Psychologen wie der niederländische Hochbegabungsspezialist Franz J. Mönks bescheinigen diesen Kindern neben einem großen Wissensdurst auch Kreativität und geistige Gründlichkeit. Weil sie unter Gleichaltrigen kaum Ansprechpartner finden, kommen diese sozialen Fähigkeiten nicht immer zum Tragen. Die Kinder sind häufig sozial isoliert.

Aber auch in der Schule versagt manch ein hochbegabtes Kind. Marcel schreibt die Buchstaben und Zahlen oft seitenverkehrt, weil sein Kopf weiter ist als seine Hand. Auch Strichmännchen und Tintenkleckse mogeln sich zwischen die Zahlenreihen. Deshalb hält die Lehrerin den Erstklässler für lernschwach und will von einer besonderen Begabung nichts wissen. Anja Schmidt: „Wenn ich ihr sage, dass er sicher mit einem PC umgeht und bereits bis 100 rechnen kann, was erst in der zweiten Klasse behandelt wird, hält mich die Lehrerin einfach für eine überehrgeizige Mutter.“ Die Lehrerin hat Marcel in die letzte Reihe gesetzt, ganz allein. „Marcel stört im Unterricht.“ „Marcel hat heute Faxen gemacht, statt Zahlen zu schreiben.“ Solche und ähnliche Sätze findet Anja Schmidt zweimal pro Woche im Hausaufgabenheft ihres Sohns.

Hilfe fand die alleinerziehende Mutter bei der Beratungsstelle für hochbegabte Kinder beim Senat, die es seit September gibt. „Das Gespräch mit der Psychologin hat mir richtig gut getan. Zum ersten Mal hat mir jemand gesagt, dass mein Sohn sich völlig normal verhält, wenn er nach dem Tod fragt oder abends einfach nicht müde wird. Normal eben für ein hochbegabtes Kind.“ Nach einem Test will die Psychologin mit der Mutter über einen Schulwechsel beraten.

Die Beratungsstelle, die gegenwärtig nur mit einer halben Planstelle ausgerüstet ist, ist nach jahrelanger Tabuisierung des Themas ein Anfang. „Wir sind mit einer dramatischen Situation konfrontiert“, konstatiert Renate Eichhorn von der Schulverwaltung. „Viele Kinder, die die Beratungsstelle aufsuchen, haben starke Verhaltensstörungen. Es gibt auch Suizidversuche.“ Im nächsten Schuljahr soll die Beratungsstelle mit eineinhalb Psychologenstellen und einer Assistenz ausgestattet werden.

Doch eine psychologische Beratung allein kann Marcels Probleme noch nicht lösen. Um die übliche Unterforderung hochbegabter Kinder auszugleichen und diese zu befähigen, Leistungen zu bringen, empfehlen Psychologen zusätzliche Bildungsangebote in der Freizeit. Das kann das Erlernen eines Musikinstruments ebenso sein wie das Belegen eines Philosophie- oder Knobelkurses bei Vereinen für Hochbegabtenförderung. Doch dafür müssen die Eltern zahlen.

MARINA MAI

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