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Sumpfland der Besiegten

Weil es aus der eigenen Fantasie keinen Weg zurück gibt: In „Picknick am Ende der Nacht“ erzählt der polnische Autor Piotr Siemion von der Hilflosigkeit des Westens, die Probleme im Osten zu verstehen

von SUSANNE MESSMER

Nichts Böses ahnend fährt man in den Osten und zack, holt einen die Geschichte ein. Vorurteilslosigkeit, Neugier, Unwissen – das alles gibt es hier nicht. Nicht für dich, denn du bist der Wessi. Du bist der mit dem kolonialen Blick, ob es dir passt oder nicht. Du darfst von deiner Welt erzählen; aber wie es hier „wirklich“ ist, wirst du nie erfahren.

Es ist sehr lustig, dass sich Piotr Siemion in seinem ersten Roman „Picknick am Ende der Nacht“ ausgerechnet die Perspektive eines Fremden angeeignet hat, um über sein Land zu schreiben. Ein namenloser Engländer kommt als Theaterpraktikant 1983 nach Breslau und wird zahllosen Rätseln ausgesetzt. Scheinbar grundlos wirft ihn gleich am ersten Abend jemand in den Fluss. Völlig verwirrt, ohne Pass und polnische Sprachkenntnisse, lernt er mitten in der Nacht eine Clique junger Leute kennen, die ihn für die sieben Monate seines Besuchs überall mit hinschleppen wird. Siemion erzählt herrlich plastisch vom nächtlichen Breslau, von Gehsteigplatten aus Granit, dem Geruch nach Ölfarbe und Rost und vom polnischen Underground in den Achtzigern, von illegalen Partys in Industrieruinen, von bekifften Konzerten in Katakomben bei Rasta und Reggae.

Die Clique funktioniert nach Regeln, die der Engländer nicht knacken kann. Keiner nimmt ihn richtig ernst, und niemand erklärt ihm etwas. Nur so viel versteht er: Hier, „im Sumpfland der Besiegten“, ist einfach alles außer Betrieb. Er verliebt sich in das einzige Mädchen in der Clique, Lidka, die ihn aber brutal von sich stößt. Sie will keine Rettung von einem, der es in Breslau billig und exotisch findet.

Fünf Jahre später trifft er die Clique in New York wieder, wo er einen Vampirfilm über die nie vergessene Lidka dreht. Ein Bild des Jammers: Aus den Undergroundhelden seiner Träume sind Bauarbeiter und Zigarettenschmuggler geworden, die nach Fusel stinken. Lidka macht bei Pornos mit. Wieder stößt sie den Engländer vor den Kopf und entzieht sich den Wunschfantasien des ewigen Touristen. Desillusioniert kehren sie, jeder für sich, nach Polen zurück.

Siemion ist nicht gerade der stilsicherste Erzähler. Alle paar Seiten heißt es Geduld üben: Je subtiler er sein will, desto mehr überflutet er alle Vielschichtigkeit, desto nervtötender werden seine ornamentalen Umständlichkeiten. Die Abweichungen vom Plot sind oft statisch, seine Sexszenen furchtbar (Was ist ein „Hexenhammer“?). Und dennoch ist „Picknick am Ende der Nacht“ mit Herzblut geschrieben, dem man nicht widerstehen kann. Der Blick des Engländers sorgt für Brechung und thematisiert außerdem die groteske Hilflosigkeit des Westens gegenüber den existenziellen und existenzialistischen Problemen eines kleinen, fernen Lands.

Im letzten Kapitel des Buchs kommt der Engländer 1991 nach Breslau zurück, dem Ort, „aus dem seine Phantasie jahrelang Nahrung bezogen hatte“, um einen Film über die Wende zu machen. Und plötzlich ist alles anders: Die Rückkehrer sind zu Pionieren der ersten Stunde geworden, einer ist im „Import-Export-Busineß“, ein anderer hat einen erfolgreichen lokalen Radiosender aufgezogen, und Lidka, die Muse, betreibt einen Videoverleih mit Pornoabteilung. So viel lebendiger erscheint ihm die Stadt, dass er als Manager der Radiostation bleibt. Aber etwas hat sich nicht verändert: Einer von ihnen wird er nie.

Piotr Siemion: „Picknick am Ende der Nacht“. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Verlag Volk und Welt, Berlin 2000, 395 Seiten, 44 DM

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