: Abschied von der Bescheidenheit
Der Gipfel war ein Sieg für Deutschland, wertet die europäische Presse. Warum will dann in Berlin keine Freude über das Ergebnis von Nizza aufkommen?
aus Berlin PATRIK SCHWARZ
Die Frage klingt, als gehe es um Fußball: Hat Deutschland gewonnen? Sie wird nach jedem EU-Gipfel gestellt – aber je verwickelter die Verhandlungen verlaufen, je unübersichtlicher die Ergebnisse ausfallen, desto weniger lässt sie sich mit der verführerischen Klarheit von Spielergebnissen beantworten. Umso mehr fällt am Tag nach Nizza auf, wie weit die Wahrnehmung des Gipfels in der Bundesrepublik sich von der in den Nachbarstaaten unterscheidet.
Von der SPD bis zum Deutschen Industrie- und Handelstag, von den Grünen bis zum Bundeskanzler vermittelte gestern niemand den Eindruck eines Durchbruchs. „Wir haben das hinbekommen, was zu machen war“, sagte ein ermatteter Gerhard Schröder nach durchwachter Nacht. Die europäischen Reaktionen lesen sich anders. Egal ob aus Frankreich, Italien, Spanien oder Großbritannien: Noch ehe gestern früh das offizielle Ergebnis bekannt wurde, bescheinigten europäische Montagszeitungen den Deutschen einen Sieg in Nizza. „Frankreich erkennt an, dass Deutschland das Land mit der größten Macht in der EU sein wird“, titelte etwa El País aus Madrid. „La Repubblica“ aus Rom schreibt: „Die wichtigste Partie zwischen Frankreich und Deutschland endete mit einem Sieg des Kanzlers. Erstmals kann Deutschland auch ohne Frankreich vorgehen – es reicht die Unterstützung der zwei anderen Großen, Italien und Großbritannien“. Deutschland habe damit sein wichtigstes außenpolitisches Interesse durch einen „Sicherheitspuffer“ geschützt, findet der Londoner Daily Telegraph: Gegen den Willen Berlins kann künftig in der EU kaum noch etwas durchgesetzt werden.
Im politischen Berlin war dagegen eine gewisse Unlust zu spüren, allzu offen von einem Erfolg für Deutschland zu sprechen. Dass FDP-Chef Wolfgang Gerhardt den Gipfel „kläglich“ nannte, dass die PDS dieselbe Vokabel verwendete, war routinierte Oppositionsarbeit.
Im Regierungslager hat die Zurückhaltung einen hehren Grund und einen dubiosen. Kanzler Schröder blieb bis zum Schluss bei seinem integeren Kurs, nationale Egoismen zurückzustellen, sofern es für die Aufnahme der osteuropäischen Reformstaaten nötig war. Der weniger ehrbare Grund liegt im verdeckten Versuch der rot-grünen Bundesregierung, Deutschland in die Mitte der europäischen Bühne zu schieben. Großmachtrhetorik würde diese sanfte Expansion des deutschen Einflusses in der Welt nur sabotieren. Stattdessen wird, scheinbar frei von Anklängen an die nationalistische Vergangenheit, von einer „angemessenen“ Beteiligung Deutschlands gesprochen – gleich ob es um den Kosovokrieg geht oder die Repräsentanz Deutscher in internationalen Organisationen. Deutschland dürfe sein „objektives Gewicht und seine Verantwortung nicht mehr klein reden“, forderte gestern Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping.
So war der Gipfel von Nizza ein weiteres Stück Abschied von der Bescheidenheit der Bonner Republik. Der deutsche Erfolg sei „das Ergebnis der neuen Realitäten nach dem Kalten Krieg“, urteilte der Figaro und eine französische Regionalzeitung bewertete das Auftreten Deutschlands ähnlich: „Bislang hat das Land sein stärkeres wirtschaftliches Gewicht nicht zu seinem Vorteil ausgenutzt. Damit ist jetzt Schluss. Deutschland hat seine Komplexe abgelegt.“
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