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Die Wüste wackelt

„Stand der Dinge (Teil 1)“ in den Berliner Kunst-Werken. Catherine David zeigt Kunst, die über die Wirklichkeit zu verbindlichen Aussagen kommt, und verweigert sich einer Ausstellungspraxis, die das beliebige Nebeneinander künstlerischer Statements als Event inszeniert – das Ende der Postmoderne?

Die Leute kleben förmlich an den Fotowänden, auf die Alejandra Riera im Zeitungslayout vergrößerte Pressefotos zu einem Essay über Frauen und Immigration tapeziert hat

von HARALD FRICKE

Am Eingang liegen kopierte Blätter mit dem Briefkopf der Berliner Kunst-Werke (KW) aus. Auch das an das Rot der Deutschen Bahn erinnernde DIN-A 4-große Heft hat KW als Logo silbern aufgedruckt. Sonst steht auf dem Umschlag noch der Titel der Ausstellung: „Stand der Dinge (Teil 1)“, einmal auf Deutsch und einmal auf Französisch; dazu rechts oben in der Ecke der Hinweis „working texts“.

Das Heft selbst ist allerdings in Englisch und Deutsch gehalten. Insofern ist die Erwähnung von „L’Etat des Choses (1ère partie)“ wohl als Gruß an Catherine David gemeint, die nach der letzten documenta nun ihre erste deutsche Ausstellung in Berlin kuratiert hat. Dafür zumindest wurde sie von Berlins Kultursenator Christoph Stölzl bei der Eröffnung am Wochenende freundlich gelobt. Vielleicht will man mit dem zarten Hinweis auf den französischen Titel aber auch dem Institut Français de Berlin und dem Bureau des Arts Plastiques in Deutschland danken, die neben dem Senat und dem Hauptstadtkulturfonds Geld für „Stand der Dinge“ gegeben haben, oder den 13 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, von denen immerhin gut die Hälfte in Frankreich lebt.

Tatsächlich ist die Suche nach einer verbindenden Sprache wichtig, wenn man verstehen will, wie „Stand der Dinge“ funktioniert. Die Ausstellung macht nicht dort weiter, wo auf Biennalen und in Gruppenshows nur das beliebige Nebeneinander künstlerischer Statements geschickt als Event inszeniert wird. David will etwas anderes: Bei ihr soll sich zeigen, wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Kunst im Sinne von Kommunikation über Wirklichkeit zu verbindlichen Aussagen finden kann. Schließlich geht es um Identitäten, die im Allover des Kapitals hervorstechen – „Mikrophänomenologien“ als letzte Trutzburg gegen das schmunzelnde Monster der Globalisierung.

Für David ist dieser Konflikt keinesfalls durch kleine Fluchten in die lokale Folklore zu bewältigen, sondern eng mit einer, wie sie sagt, „anthropologischen Entwicklung der Ästhetik“ verkoppelt. Statt über die Formenvielfalt in der Kunst zu staunen, sucht David den gemeinsamen Nenner, sprich: Produktionsbedingungen. Deshalb guckt sie sich Videos von Künstlern in China an, diskutiert mit Architekten aus dem Libanon oder holt mit Kader Attia einen kaum 30-jährigen algerischstämmigen Fotografen nach Berlin, der seit zwei Jahren in Paris das Leben von Transvestiten aus Algerien begleitet, die zum Teil ohne französischen Pass als „sans papiers“ auf den Strich gehen. Voilà, schon verzahnen sich Ökonomie-, Gender- und Herkunftsfragen in einem Diakarussell mit Rai-Pop im Hintergrund.

Illegalität und Immigration – das Problem ist in Berlin durchaus geläufig. Nur bei den Kunst-Werken hätte man bislang dermaßen viel Engagement nicht erwartet. Jetzt zeigt sich, dass die Kritik an der Institution allein zu kurz greift: Während sonst emsig diskutiert wurde, ob man Klaus Biesenbach als Start-up-Unternehmer des Berliner Kunstbetriebs unterstützen darf, bringt „Stand der Dinge“ ausgerechnet in seinem Haus kritische Positionen zusammen, die aufgrund der Grabenkämpfe fast aus dem Blickfeld geraten sind. Das hätte man leichter und viel früher haben können, nur nicht besser vermutlich.

Aber auch das ist neu: Während David nach der trockenen documenta als übel gelaunte Theoretikerin galt, die Kunst zum Beleg für ihre Thesen aussucht, hat sich in Berlin der Charakter einer zähen Volkshochschule für angewandte Bildkritik verflüchtigt. Es liegt vor allem am Aufbau der Ausstellung, für den mit leichter Hand, über drei Etagen verteilt, Film- und Fotoarbeiten paarweise installiert wurden. Auf die sonst unangenehm muffigen Dunkelkammern für die Videopräsentation wurde vollständig verzichtet. Ohnehin korrespondiert das natürliche Tageslicht besser mit den Situationsbeschreibungen, die in „Stand der Dinge“ versammelt sind: Die Leute kleben förmlich an den Fotowänden, auf die Alejandra Riera im Zeitungslayout vergrößerte Pressefotos zu einem Essay über Frauen und Immigration tapeziert hat; oder sie sitzen stundenlang vor Wang Jianweis Videomonitor und wollen auch nach zwei Stunden noch wissen, wie die Geschichte der vier Obdachlosen ausgeht, die in seinem Dokumentarfilm „Living Elsewhere“ eine halbfertig gestellte Bonzenvilla illegal bewohnen.

Dabei ist Wangs Studie ein minimalistisches Porträt ohne jede Handlung. Zwischen 1999 und 2000 hat er am Stadtrand von Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, immer wieder kurze Sequenzen gedreht: Ein alter Mann pflanzt Kräuter auf dem Gelände, das ursprünglich wohl als Parkplatz gedacht war; ein anderer fegt in den weiß strahlenden Luxusruinen mit Reisigbesen Müll zusammen; manchmal wird auf einer offenen Feuerstelle gekocht, manchmal beschimpfen sich die Mitglieder der Hausbesetzerfamilie. Das alles geschieht ohne Kommentar, als Momentaufnahme eines gescheiterten Projekts vom neuen Wohlstand in China. Überhaupt verzichtet Wang in seiner Darstellung auf jede Endzeitstimmung, die sich aus der Gemengelage von urbanem Leerstand und archaischem Ackerbau ergeben könnte. Trotzdem liegt in den vorsichtigen Bildern eine ungeheure Wucht des Faktischen, die den Betrachter noch nach Stunden bannt – erst die Pleite der Investoren schafft Überlebensbedingungen für die Armen. Idyllisch ist daran nichts, das weiß auch der Älteste, wenn er erzählt, dass die Leute alle ihre Habseligkeiten aufbewahren, seit es in China kriselt. Früher hat er vom Alteisenverkauf gelebt, jetzt muss er zwischen Betonresten mühsam Gemüse aus dem hoffnungslos übersäuerten Boden ziehen.

Die Versteppung der sozialen Beziehungen entlädt sich bei Harun Farocki in Gewalt. Häftlinge prügeln sinnlos aufeinander ein und werden von nervösen Wächtern erschossen. Das gehört zum Alltag in Corcoran/Kalifornien, einem Hochsicherheitsknast, in dem neben afroamerikanischen Jungkriminellen vor allem Mexikaner aus verfeindeten Gangs einsitzen. Die Verantwortlichen machen sich offenbar einen Spaß daraus, die Männer wie Kampfhunde aufzuhetzen. Beim Training des Personals wird später durchgespielt, ob der Todesschuss ein Ernstfall war – wer ohne Bedenken weiter zur Waffe greift, hat die Prüfung bestanden.

Auch bei Farockis neuer Arbeit wächst das Unbehagen des Publikums mit der Distanz, die der Regisseur anhand der Bilder erzeugt. „Ich glaubte, Gefangene zu sehen“ schneidet Fundmaterial zusammen, das Farocki von der Gefängnisleitung und von der Organisation „Focus Prison“ zur Verfügung gestellt wurde. Per Doppelprojektion wird der Betrachter mit der mechanischen Kälte aus Überwachung und Strafe konfrontiert, die das bei Michael Foucault beklagte strukturelle Grauen längst übersteigt und als Hard Fact in Mike Davis’ Buch „Casino Zombies“ geschildert ist. Sicherheitsanlagen verknüpfen die Videokamera direkt mit Wasserwerfern, Sehen und Schießen werden zum selben Vorgang.

Doch diese Erkenntnis hindert Farocki nicht daran, die Bilder zu verlangsamen und den Moment sichtbar zu machen, an dem die Interpretation der Aufnahmen über Leben und Tod entscheidet. Und es ist dieser Augenblick, in dem sich die verantwortliche Aufsicht bei Extremsituationen irren kann. Denn den Fortgang sieht man nie voraus: So entpuppt sich am Videoschnittplatz eine Schlägerei, die zur Erschießung von William Martinez führte, nachträglich als gewöhnlicher Fightclub. Danach brennt sich allerdings der über das Bild gelegte Kommentartext Farockis umso mehr ein – Martinez hätte auch dann nicht getötet werden dürfen, wenn sein Gegner tatsächlich in Lebensgefahr gewesen wäre. Zwischen Sehen und Schießen entscheidet nicht die Maschine, sondern das Bewusstsein.

Es sind diese Widersprüche, mit denen die Ausstellung arbeitet. Statt der üblichen Willfährigkeit im Umgang mit Images zeigt sich bei David, dass der Betrachter immer selbst entscheidet, wie die Darstellung und das Dargestellte, Bild und Wirklichkeit zusammengehen. Dabei ist es für sie ganz klar die Aufgabe der Kunst, so eng wie möglich am Inhalt zu bleiben, ohne den Weg zum Bild zu versperren. Dann wirken Efrat Shvilys Aufnahmen jüdischer Siedlungen im Westjordanland nüchtern wie modernistische Archtitekturfotografien und versuchen dennoch, etwas von der Künstlichkeit hereinzuholen, mit der die Musterhäuser sich als Festung und Fremdkörper zugleich in der menschenleeren Landschaft abzeichnen. Umgekehrt sieht man bei der in Paris lebenden Fotografin Paola Salerno an der Kombination aus Close-ups und Panoramen, wie mit dem Verfall des Tourismus in Kalabrien auch die dörflichen Gemeinschaften in die Brüche gehen. Die Summe der Eindrücke schlägt auf die Details zurück – hier der im Rohbau verlassene Bungalow, dort die abgerissenen Mauern alter Bauernhöfe, dazwischen überall Stillstand.

Zuletzt ist es das Video von Mauricio Dias und Walter Riedweg, in dem sich eine Art Leitmotiv zum „Stand der Dinge“ aufbaut. „This is not Egypt“ beginnt mit einem Blick auf die Wüste, der sich dreifach projiziert wiederholt. Nur das mittlere Bild wackelt unentwegt und mit ihm die Linie am Horizont. Nie kommen die drei Wüsten auf gleicher Höhe zueinander. Das macht im Film schon den Unterschied aus zwischen Wirklichkeit und Ornament. Alles ist nur eine Frage der richtigen Einstellung.

Bis 4. 2. 2001, Kunst-Werke, Berlin

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