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Das Leben als täglich neu zu gestaltendes Event und mittendrin jeder Akteur sein eigener Darsteller

Bungee-Jumping vom Fernsehturm, Skating am Berliner Tor: Der Funsport als Phänomen der Versüchtelung der Spaßgesellschaft. Ein Report über die Flucht vor der Erlebnisarmut des Alltags  ■ von Peter Brandhorst (Text) und Babette Brandenburg (Fotos)

Bestimmt, hofft Timm,

der 18-jährige Tischlerlehrling, wird die Aufregung gleich kaum anders sein als neulich in der Achterbahn auf dem Hamburger Dom. Sein rechter Fuß kratzt unruhig an einer Wand, mit den Händen umschließt er die Arme von Freundin Jana. Timms Vater nickt ganz langsam. Er will beruhigen und sagt dem Sohn, im Grunde sei Bungee doch eh ziemlich langweilig. „Mir ginge das viel zu schnell vorbei“, gibt Papa sich prahlerisch, „ich würde eher aus dem Flugzeug springen. Ist höher, dauert länger!“ Timm wechselt jetzt eilig den Fuß, und Freundin Jana wirft einen hastigen Blick hinüber zur Sprungplattform.

„Aahngst?“, bricht Timm einige lange Momente später ihr Schweigen. Und schwört ganz schnell, Angst kenne er gar nicht. „Auch wenn ich gleich auf der Plattform wohl denken werde: Was mache ich hier draußen bloß?“ Doch ein einziges Mal nur von weit oben über der Stadt hinunter springen, „das wollte ich immer schon. Das muss cool sein!“.

Unten, erzählt Jana,

warten schon Rico und die Clique. Die trauten sich noch nicht selbst, „denn eigentlich muss man ja verrückt sein, um das zu machen“. Und, mit einem liebevollen Blick auf Timm: „Du warst das ja immer schon.“ „Hammerhartes Adrenalin“ habe er verspürt, sonst „nichts, nur Leere“, erzählt Timm einen Sprung später und 130 Meter tiefer. Kopfüber von der Aussichtsplattform des Hamburger Fernsehturms, an den Beinen gesichert durch ein unterarmdickes Gummitau. „Ey“, schreit Timm immer noch strahlend und aufgeregt in die Runde, was alle gesehen haben, „ey, ich bin da runter gesprungen!“

Naja, sagt Jana irgendwann, „ich glaube schon, dass dieser Sprung sein bisher größtes Abenteuer ist. Das Grinsen wird er die nächsten Wochen wohl nicht mehr raus kriegen aus dem Gesicht“. Rico, fügt Jana dann noch schnell hinzu, habe ihr vorhin übrigens auch schon erklärt, dass er eigentlich ganz schön neidisch ist auf Timm.

Vom höchsten Turm der Stadt

ein paar Momente lang eintauchen in eine Welt, wie sie der Alltag kaum noch bietet: Leben wird plötzlich zum Erlebnis, wird zu Erlebnissen voller Spannung mit, relativ, wenig Gefahr. Ohne dass dabei auch noch Platz bliebe für irgendein Gefühl von Langeweile. Immer mehr Menschen, vor allem ganz junge, suchen den „Kick“, den „Thrill“, eine neue Herausforderung. So genannte Risiko- oder Extremsportarten boomen in Zeiten, in denen sich ganze Generationen als „Feier-“ oder „Spaßgesellschaften“ verstehen. Normal bleibt der Alltag. Erlebnisse ganz besonderer Art hingegen versprechen, nach Feierabend, die Flirts mit der Gefahr, die Suche nach dem Spaß. Spannung erzeugt nicht mehr das Hocken vor dem Fernseher; Abenteuer garantiert nun der Sprung vom Fernsehturm.

Etwa 240 verschiedene Freizeitsportarten sind mittlerweile in Deutschland bekannt. Noch in den 60er Jahren waren es gerade dreißig. Manch Neues war jedoch nichts anderes als die Weiterentwicklung, Verjüngung alt eingeführten Sports. Beachvolley, Beachsoccer oder Beachminton sind die Sandstrand-Ableger bereits lange etablierter Sportarten und das Snowboard nichts anderes als ein Skateboard ohne Rollen, welches wiederum seinen Ursprung hat in den Surfboards an der amerikanischen Westküste.

Anderes war zuvor vollkommen unbekannt im Lande: Bungee-Jumping etwa, der freie Sturz am Gummiseil von Brücken, Kränen, Staudämmen oder Fernsehtürmen. Der neue Ableger davon ist auch schon auf dem Markt und heißt Heli-Bungee – Absprung aus dem Hubschrauber in fünfhundert Meter Höhe, und dann zunächst ungebremste vierhundert Meter hinab in die Tiefe.

Im großen Familienverbund moderner Trendsportarten gelten Betätigungen wie Bungee und Freeclimbing, das Klettern an senkrechten Wänden, gemeinhin als extremer und mit Risiko behafteter Sport. So wie auch Canyoning und Rafting, der Kampf mit der Natur in engen Gebirgsbach-Tälern.

Mehr Spaß als Risiko

versprechen Funsportarten wie Skateboard- oder Inlinefahren. Wobei nichts falscher ist als bloße Theorie: Keine Aufsicht in einer Skateboard-Halle kommt noch aus ohne fundiertes Wissen in der Erstversorgung von Platzwunden oder Knochenbrüchen. Kletternde hingegen sprechen sehr gerne davon, einen sicheren „Ausbildungssport“ zu betreiben – nach außen durchaus als waghalsig erscheinend, in Wirklichkeit jedoch über Jahre trainiert, jede Bewegung kalkuliert. Und warum, fragt ein schwitznasser Skater in einer Übungspause, warum gilt Bungee bis heute als Sport? Der Sprung am Seil erfordert nichts weiter, als punktgenau Angst zu überwinden. Sport hingegen ist ein Prozess des Sich- Bewegens, ein permanentes Studium eigener motorischer Entwicklungen. Eigentlich, meint der Skater, „könnten Turm-Hüpfer doch auch gleich mit zwei Fingern in eine Steckdose greifen. Das schockt bestimmt ähnlich.“

„Extreme Langeweileverhinderung“,

die „Flucht vor der Erlebnisarmut des Alltags“ und die „Suche nach Spaß“ sind die Hauptmotive junger Menschen, sich verstärkt den im Trend liegenden Extremsportarten zuzuwenden. Das ist das Ergebnis einer Studie, die jüngst vom Hamburger B.A.T.-Freizeitforschungsinstitut unter Leitung von Prof. Horst W. Opaschowski veröffentlicht wurde. Drei Viertel der befragten Jugendlichen erklären, ein Bungee-Jump gelte für sie als „riskant und wagnisreich im Leben“. Dicht gefolgt von Canyoning, Riverrafting und Freeclimbing. Sieben Prozent sagen, auch selbst schon Bungee gesprungen zu sein, 21 Prozent wollen es noch probieren. Ganz unten, mit acht Prozent am unspannendsten Ende der Risikotreppe des Lebens: die feste Beziehung. Jugendliche, sagen die Freizeitforscher, haben „mehr Angst vor der Langeweile als vor dem Risiko“.

„Der Sprung vorhin“, befindet Torsten am Fuße des Fernsehturms, „war die Begegnung mit einer Grenzsituation meines Lebens“. Unter der Woche arbeitet er in einem Getränkegroßhandel. „Das ist auch ziemlich klasse und abwechslungsreich“, fügt er hinzu, „mal bin ich Auslieferungsfahrer, mal sitze ich an der Kasse.“

Es werden stetig mehr,

die sich nach Feierabend oder im Urlaub auf die Suche nach dem „Kick“ begeben, der helfen soll, den Alltag zu gestalten. Und sie sind immer jünger. Der Altersschnitt sei „in der Tendenz sinkend“, hin zu den 16- bis 18-Jährigen, heißt es bei der Agentur Jochen Schweizer, die in Hamburg, München und Dortmund die drei einzigen stationären Bungee-Absprunganlagen Deutschlands betreibt. 64.200 Sprünge hat Schweizer bisher verkauft, dieses Jahr doppelt so viele wie 1999. Klare Tendenz hier: „Sehr steil nach oben.“ Während sich zum Klettern an senkrechten Wänden und Kajakfahren in Wildwasserbächen stärker Frauen und Männer mit höherer Bildung hingezogen fühlen, sind es Männer vor allem, auch aus einfacheren sozialen Schichten, die sich und anderen ihren Mut beweisen mit Absprüngen aus 80 oder 130 Meter Höhe.

Erstmals wird die Agentur Schweizer in diesem Jahr ihre Bungee-Stationen in Hamburg und Dortmund auch den Winter über geöffnet halten. Die Nachfrage ist enorm, gesprungen werden kann schon lange praktisch nur nach Voranmeldung. Der eigentliche Boom-Höhepunkt, so prophezeien die B.A.T.-Freizeitforscher allen neuen Extrem- und Trendsportarten, sei dennoch erst in zehn Jahren zu erwarten. Dann sogar, vielleicht, auch als Bedrohung des organisierten Sports, des Turnens, Laufens und Hinter-den-Ball-Tretens in den Vereinen?

„Was da stattfindet,

gefährdet die Vereine nicht in ihrer Substanz“, ist Jan Schütte überzeugt, Sprecher beim Hamburger Sportbund (HSB), in dem 770 Vereine mit 484.000 Mitgliedern organisiert sind, knapp 30 Prozent der hansestädtischen EinwohnerInnen. Wer sich körperlich fit und gesund halten wolle, gar noch Interesse mitbringe für die Auseinandersetzung unter Gleichgesinnten, sei bei bestimmten Extremsportarten nicht unbedingt gut aufgehoben. Gleichwohl verzeichnet der organisierte Vereinssport bundesweit Rückgänge bei den Mitgliederzahlen. HSB-Sprecher Schütte beschreibt die Hamburger Situation als „Stagnation auf relativ hohem Niveau“. Ende 1999 wurden hier erstmals insgesamt 2500 Mitgliedschaften weniger gezählt. Hingegen ungewöhnlich hohe Zuwachsraten vermeldete – neben den Fußball-Clubs HSV und FC St. Pauli – vor allem ein Verein in Bergedorf. Um gut 13 Prozent, auf insgesamt 11.200, stieg bei der Turn- und Sportgemeinschaft (TSG) die Zahl der Eingeschriebenen.

Man habe, erklärt dies TSG-Sprecher Hoffmann, in den vergangenen Jahren „ein erfolgreiches Gesamtkonzept“ entwickelt. Als wichtiger Baustein dafür gilt das 1997 errichtete vereinseigene Trend-sportcenter, in dem unter anderem geklettert und geskatet werden kann. „Das wird toll angenommen“, sagt Hoffmann, „schon vormittags ist die Halle immer ausgebucht von den Schulen“. Und so gibt man auch beim Sport-Dachverband HSB zu verstehen, dass natürlich nicht der Blick verloren werden dürfe für das, was sich womöglich auch abseits der Vereine entwickelt – Streethockey beispielsweise oder Street-Basketball, Skating oder Freeclimbing. Allesamt Bewegungssportarten, die bei jungen Leuten stark im Trend liegen und denen sich inzwischen auch der Hamburger Sportbund mit jährlich organisierten „Trendsporttagen“ zu öffnen versucht.

Das Leben als täglich neu

zu gestaltendes Event und mittendrin jeder Akteur sein eigener Darsteller. Zur Erlebniswelt Spaß mit Sport gehört bei den Kids längst auch der Erlebniskonsum. Man muß up to date bleiben, das Shirt oder die Hose zum Skateboard könnten morgen schon out sein. Die Industrie lebt nicht schlecht davon, 20,5 Milliarden Mark wurden 1998 allein auf dem Sportartikel-Markt umgeschlagen. Aktuelle Prognose nur für den Outdoor-Sektor: satte 15 Prozent plus. Und je schneller, je häufiger sich Trends in Sport und Accessoires verändern, um so rosiger sind die Perspektiven der Industrie. Scouts sorgen dafür, dass dem Markt kaum eine Entwicklung verborgen bleibt.

Nachdem in den vergangenen Jahren das Wintersportgeschäft in eine gewisse Talfahrt zu geraten schien, sollen dort neue Extremsportarten wieder für frischen Schwung sorgen: Kite-Skiing etwa, das zusätzlichen Kick durch die Zuhilfenahme eines Drachens verspricht, oder Bobrunskating, auf Schlittschuhen in hohem Tempo durch Eiskanäle jagen. Und die auf schnelle Befriedigung von Spaß-Thrill spezialisierte Agentur Jochen Schweizer beherrscht zwar – gegen die Konkurrenz einiger kleinerer Betreiber mobiler Sprunganlagen – über 80 Prozent des deutschen Bungee-Marktes. 90 Prozent des Gesamtumsatzes erwirtschaften jedoch mehr als mittlerweile vierzig weitere „Module“, so der geschäftliche Terminus für Bull-Riding und Bike-Loop, Sumo-Wrestling oder – der neueste Schrei – House-Running.

Auch an diesem Nachmittag,

wie jeden Tag, ist die öffentliche Skate-Halle am Berliner Tor erfüllt vom surrenden und rauschenden Lärm unzähliger Rollen beim Kreiseln auf Holzbahnen, in Bowles oder in Halfpipes. Skater kreuzen scheinbar unkoordiniert mit Inlinern, ein paar Kinder hechten auf Kickboards kreuz und quer durch den riesigen Saal. Aus brusthohen Boxen-Türmen drischt harter Hip-Hop durch den Vorraum noch bis auf den Außenplatz. Dort sitzen, in normaler Straßenkleidung, auch einige „Bettys“, wie Mädchen in der Szene genannt werden. Skaten ist, fast ausschließlich, Jungssache.

„Wir sind eine Art Jugendzentrum“, sagt Mitarbeiter Ralph Kietzke, der seine Aufgabe vor allem als die eines Sozialarbeiters sieht. Einige Jugendliche kämen auch aus „eher unterprivilegierten Verhältnissen“. Beim Skaten können sie sich Ruhm und Ansehen verschaffen, sind täglich vertieft in das Erlernen neuer Tricks. Für „Stammeskriege“ zwischen Jugendgruppen, so Mitarbeiter Kietzke, bleibt da keine Zeit. Zwei Drittel der Hallen-Kosten werden von der Hamburger Behörde für Schule und Jugend finanziert, der Rest kommt von Sponsoren. „Das ist hier Nervenkitzel“, befindet Mario, ein 14-Jähriger Schüler, der aus Billstedt immer mit seiner Clique in die Halle kommt, „zu Hause ist es langweilig, dort könnte ich nicht einen Tag bleiben.“

So schafft sich die Erlebnisgeneration

mit jedem Kick, jedem frisch erlernten Trick gleich den Ausgangspunkt für einen neuen. Unruhe zwingt, Angst zu überwinden, und Ruhe ist stets nichts weiter als das Gefühl vor der Langeweile. Manch einer, der schon längere Zeit fleißig mitsurft auf der Welle moderner Fun- oder Extremsportarten, identifiziert sich mit seinem Tun derart besessen, dass Beobachter inzwischen von der Entstehung „einer neuen Art von Süchten“ sprechen.

Der Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle gegen die Suchtgefahren, Wolfgang Schmidt, meint, dass die moderne Erlebniskultur eine solche „Versüchtelung der Gesellschaft“ geradezu provoziere. In der Sozialforschung wird dieses Phänomen inzwischen mit dem Begriff des „Flow-Erlebnisses“ umschrieben: Die Betroffenen gehen wieder und wieder bestimmten Tätigkeiten nach und sehen sich irgendwann nicht mehr in der Lage, eigenes Verhalten selbst zu steuern. Handlung und Bewusstsein verschmelzen miteinander. „Das Dumme ist eigentlich nur“, sagt Mario, der Skater, über seine Leidenschaft, „dass ich auch sonst immer daran denken muss.“

Oben auf dem Hamburger Fernsehturm

erzählt der Bungee-Teamcaptain, manche Springer kämen regelmäßig auf die Rampe – einer gar bereits mehr als 120 Mal. Torsten hat gerade seinen dritten Sprung durchlebt, der vierte ist in Planung. Denn immer, wenn er aus seinem Getränkelaster heraus den Turm erblickt, „dann hab ichs wieder: dieses Kribbeln im Bauch, das Rauschen in den Adern“.

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