: Erfolg ohne Reform
Beim EU-Gipfel haben die Staaten nur das erreicht, was nötig ist, um die Union zu erweitern. Um dies zu schaffen, wurden gerade die schwierigen Reformen verschoben
Ist Nizza nun ein Reformerfolg gewesen oder nicht? Die 15 Staats- und Regierungschefs der EU haben sich auf einen neuen Unionsvertrag geeinigt, den sie selbst kaum verstehen, geschweige denn der europäischen Öffentlichkeit vermitteln können. Also prägen Enttäuschung über ein vermeintlich armseliges Ergebnis und gegenseitige Schuldzuweisungen die Europapolitik nach Nizza. Beides ist jedoch verfehlt.
Tatsächlich war der Gipfel von Nizza ein politischer Erfolg, wenn auch keine Reform – und zwar vor allem nicht bei der Neuverteilung politischer Macht in der EU. Der Erfolg besteht darin, dass man immerhin ein selbst gestecktes Etappenziel auf dem weiterhin langen Weg zur Erweiterung der Union erreicht hat. Die Kompromisse wirken zwar undurchschaubar, offenbaren aber im Kern eine schlichte Botschaft: Erweiterung ja, Vertiefung nein. Die EU will größer werden, dabei jedoch im Grunde so bleiben, wie sie heute ist.
Eine nüchterne Bilanz muss zunächst betonen, was in Nizza nicht zur Debatte stand. Für die EU ging es nicht in erster Linie um mehr Transparenz und Bürgernähe, ungeachtet der feierlichen Erklärung einer Grundrechtecharta oder der Vereinbarung einer weiteren Regierungskonferenz 2004. Erst dann will man sich eingehend, aber im Ergebnis offen mit den demokratischen und föderalen Visionen eines Joschka Fischer beschäftigten. Die Hauptaufgabe des Gipfels bestand vielmehr darin, die minimalen Voraussetzungen für einen maximalen Anspruch zu schaffen.
Die EU strebt die größte Erweiterung ihrer Geschichte an und verhandelt deshalb über den Beitritt von zehn Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Zypern und Malta. Das Ziel einer von 15 auf 27 Staaten vergrößerten Union verlangt allen Seiten einiges ab. Die Beitrittskandidaten müssen stabile Demokratien aufbauen und einstige Planwirtschaften in konkurrenzfähige Marktwirtschaften umwandeln. Die EU muss im Gegenzug ihre Institutionen neu gestalten, um auch mit 27 Mitgliedern zu funktionieren. Und: Sie muss ihre Landwirtschafts- und Regionalförderung neu organisieren, damit die eigene Planwirtschaft bezahlbar bleibt.
Die Regierungskonferenz hatte vor diesem Hintergrund von Anfang an ein bescheidenes Ziel. Weder die Agrarpolitik noch die Struktur- und Kohäsionsfonds standen auf der Tagesordnung, obwohl hier die größten sachpolitischen Hindernisse für die Erweiterung liegen. In Nizza ging es lediglich um die institutionellen Fragen, die auf jeden Fall gelöst werden müssen, damit die ersten Beitritte wie gewünscht im Jahr 2003 erfolgen können.
Übersetzt in die Sprache der EU sollte Nizza die Überbleibsel von Amsterdam beseitigen, also jener Regierungskonferenz von 1996/97, als schon einmal ergebnislos über die Gestaltung der beiden wichtigsten EU-Organe gestritten wurde: Rat und Kommission. Bei der Kommission ging es darum, ob auch in einer EU der 27 jedes Land einen Vertreter an der Spitze der Brüsseler Behörde stellen soll, obwohl dies mangels Verwaltungsaufgaben eigentlich überflüssig wäre. Auf Drängen der kleineren Staaten wurde beschlossen, dass die Formel „ein Kommissar pro Land“ weiterhin gilt. Der deutsche Reformvorschlag zur Verkleinerung der Kommission scheiterte, weil über ein in diesem Fall notwendiges Rotationsverfahren kein Konsens erzielt werden konnte. Erst wenn über die Mitgliedschaft weiterer Staaten entschieden werden muss, die in Nizza gar nicht berücksichtigt worden sind (u. a. Türkei, Kroatien, Schweiz) wird diese Frage wieder aktuell.
Beim Rat liegen die Dinge komplizierter. In der heutigen EU gibt es 5 große, 6 mittlere und 4 kleine Mitgliedstaaten. In der künftigen Union der 27 wird es dagegen nur 6 große, aber 10 mittlere und sogar 11 kleine Staaten geben. Da wie im Bundesrat kleinere Länder durch die Stimmverteilung stets begünstigt werden, hätte eine rechnerische Fortschreibung der alten Stimmwägung den Einfluss der großen EU-Staaten im Rat drastisch verringert.
Die in Nizza vereinbarte Abstimmungsformel hebt dieses absehbare Ungleichgewicht weit gehend auf. Dazu erhält jedes Land mehr Stimmen, die Größeren jedoch relativ mehr als die Kleineren, sodass im Ergebnis weder einzelne Staaten noch Staatengruppen einen nennenswerten Vorteil gewinnen. Der wichtigste Effekt besteht darin, dass bei Entscheidungen, die eine qualifizierte Mehrheit erfordern, nicht wie bisher drei große Staaten, sondern mindestens noch ein vierter (kleiner) Staat mit Nein stimmen muss, um einen Vorschlag zu Fall zu bringen.
Diese geringe machtpolitische Einbuße der großen Staaten wird zusätzlich durch einen zweiten Mechanismus gemildert. Qualifizierte Ratsmehrheiten bedürfen künftig zum einen einer Stimmenzahl zwischen 70,8 und 73,9 Prozent, wobei über die genaue Höhe dieses Quorums in Nizza noch keine endgültige Einigung erzielt wurde. Deshalb wird derzeit nachverhandelt. Zum anderen muss diese Mehrheit mindestens 62 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU repräsentieren. Aufgrund der doppelten Mehrheit können statt vier wieder wie heute drei große Staaten alleine eine Sperrminorität bilden, aber nur dann, wenn auch das mit Abstand bevölkerungsreichste EU-Mitglied dabei ist – Deutschland. In dieser gegenüber Frankreich, Großbritannien und Italien etwas besseren Vetoposition bei Mehrheitsentscheidungen erschöpft sich der gesamte politische Größenvorteil Deutschlands. Wie gering dieser Vorteil letztlich ist, zeigt die Tatsache, dass in Nizza überhaupt keine substanzielle Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen beschlossen worden ist. Zwar wird die EU das Einstimmigkeitsprinzip in rund 40 von 70 möglichen Fragen gemeinsamer Politik aufheben, doch in allen wichtigen Bereichen wie etwa der Steuer- oder Einwanderungspolitik wird der Rat auch künftig nur im Konsens entscheiden können.
Für Deutschland fällt das Gipfelfazit daher geteilt aus. Die Bundesregierung wollte in Nizza beides erreichen, die Erweiterung und die Vertiefung der EU. Die Mitgliedstaaten haben bewiesen, dass sie zur großen Erweiterung bereit sind. Die Beitrittskandidaten wissen jetzt, mit wie vielen Sitzen und Stimmen sie in Zukunft in den EU-Institutionen vertreten sein werden. Gesamteuropäisch ist dieses Signal von unschätzbarem Wert und aus deutscher Sicht ein großer Erfolg.
Zugleich zählt Deutschland aber auch zu den Verlierern von Nizza, denn der Vertiefung der politischen Zusammenarbeit ist eine klare Absage erteilt worden. Die Unionsorgane wurden vertraglich so zurechtgeschnitten, dass sie genau zwölf neue Mitglieder aufnehmen können, ohne dadurch die innere Machtbalance wesentlich zu verändern. Deutsches Wehklagen jedoch ist unangebracht. Ob die wirklich noch ausstehende Reform der EU-Agrar- und Regionalpolitik gelingen kann, ist durch Nizza nicht wahrscheinlicher, aber ebenso wenig unmöglich geworden. CARSTEN SCHYMIK
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