: „Jeder sollte experimentieren“
Interview CHRISTIAN FÜLLER
taz: Herr Reich, fünfzig Prozent befragter Jugendlicher sind der Meinung, dass nur genetisch veränderte Tomaten Gene enthalten.
Jens Reich: Das zeigt, dass viele den Begriff des Gens ohne jeden Sachverstand verwenden. Bei denen, die gerade erst aus der Schule gekommen sind, dürfte das allerdings nicht passieren. Das wäre ja gerade so, als wenn man nicht wüsste, was Zähler und Nenner sind.
Manche Leute denken eben, dass nach der Schule Schluss ist mit Bruchrechnen.
Aber das Kinderkriegen geht dann erst richtig los. Und gerade da werden die wichtigsten humangenetischen Anwendungen auf die Menschen zukommen. Absolventen einer allgemeinbildenden Schule in Deutschland müssen einigermaßen Bescheid wissen, welche Tests vor, während und nach der Schwangerschaft durch die Gentechnik möglich geworden sind. Das geht uns alle existenziell an. Da kann man nicht Unwissen vorschützen.
Was müssen Schulkinder lernen, um die Gentechnologie verstehen und so etwas wie ein kritisches Bewusstsein dafür entwickeln zu können?
Ich würde Ihre Frage lieber andersherum beantworten: Es reicht nicht, über die Gentechnik nur zu reden. Es bedarf sehr konkreten Wissens, manuellen, handlichen Wissens. Jeder Schüler sollte mal experimentiert haben – selbst wenn er dabei im Gläsernen Labor keine genetisch hoch gestochenen Versuche vornimmt.
Das Gläserne Labor an Ihrem Institut hat sich unter anderem zum Ziel gesetzt, Misstrauen und Angst gegenüber der Gentechnik abzubauen. Das wünscht sich auch die Gentech-Industrie.
Um die Metadiskussion über Konsequenzen und die Bewertung der Gentechnik kommen Sie auch mit den schönsten praktischen Versuchen nicht herum. Die Schüler und Studenten, die da pipettieren oder mit Zellkulturen arbeiten, fangen natürlich sofort an, Fragen zu stellen, und wollen diese Fragen auch diskutieren.
Also doch reden?
Diskutieren. Die Humangenetik sollte im Unterricht so behandelt werden, dass ihre existenzielle Bedeutung zur Sprache kommt. Dazu gehört zum Beispiel die Entscheidung des Einzelnen, ob er oder sie Kinder kriegen will und wie gesund diese Kinder zur Welt kommen sollen. Schüler sollten in der Schule spielerisch üben können, über diese Fragen zu diskutieren.
Wie kann ein solches Szenario aussehen?
Nehmen wir doch mal an, dass einem leukämiekranken Kind mit dem Knochenmark eines gesunden Klons geholfen werden könnte. In einer hypothetischen Situation – vorausgesetzt, Klonen wäre heute problemlos machbar und auch gesetzlich erlaubt – könnte man sagen: Weil es ein gesundes Geschwisterkind nicht gibt, möchte eine Familie gern einen gesunden Doppelgänger des kranken Kindes für eine Knochemarkstransplantation klonen.
Eine Horrorvorstellung.
Nein, keine Horrorvorstellung, sondern ein Fall für den Unterricht, bei dem der Lehrer klar machen kann, was überhaupt passiert, wenn geklont wird. Die Schüler regt diese Diskussion auf. Weil die Frage nach der Würde des Menschen, die sonst so schön wolkig diskutiert werden kann, plötzlich sehr konkret auf dem Tisch liegt. Wessen Würde steht denn da eigentlich auf dem Spiel – die des zukünftigen Klons, des kranken Kindes oder der Eltern? Das müssen Sie mit den Kindern erst einmal auseinandernehmen.
Einen ähnlichen Fall gab es in den USA bereits. Da sicherten sich Eltern mit der Präimplantationsdiganostik ab, dass ihr zweites Kind gesund ist. Ein Kind, das sie zeugten, um dem kranken Geschwisterkind zu helfen.
Aber wenn jemand diesem Kind das Herz herausreißen wollte, ließe sich sofort sagen, das ist gegen das kantische Prinzip: Einen Menschen zu töten, nur um einem anderen sein Herz zu geben. Aber eine Knochenmarkspende ist nicht tödlich, sondern eher wie eine Blutspende. Zu diesem Zweck ein Kind zu zeugen oder zu klonen, das ist natürlich eine Fremdbestimmung durch die Eltern, die die Autonomie des werdenden Kindes verletzt. Dieser Fall enthält allerdings eine Güterabwägung, die Sie sehr anschaulich mit Schülern diskutieren können. Weil man sieht, dass das Klonen von Menschen nicht a priori eine Wahnsinnstat ist, sondern einen durchaus vertretbaren moralischen Hintergrund haben kann.
Sie selbst sagen aber, dass man das Emryonenschutzgesetz nicht lockern sollte – etwa für vorgeburtliche Diagnostik.
Ja, ich bin dagegen. Denn die gesellschaftlichen Konsequenzen wären erheblich. Die sind nicht ausreichend diskutiert, um ein Gesetz zu öffnen, das Embryos schützt.
Sie befürchten, dass Elternpaare sich mit Hilfe der Präimplantationsdiganostik nicht nur gesunde, sondern regelrechte Designerbabys herstellen lassen könnten?
Es gibt doch nur relativ wenige indviduelle Fälle von Familien, die sich nach der Geburt eines Kindes mit einem genetischen Defekt ein zweites gesundes Kind wünschen. Ich habe das Problem, denen nun mit der Gentechnik zu Hilfe kommen zu können – und dabei den gesellschaftlich zweckmäßigen Schutz von Embryonen allgemein auszuhebeln. Das will ich nicht, und zugleich weiß ich, dass dieser Konflikt schwer lösbar ist.
Der Experte wankt. Was geschieht dann erst, wenn ein Lehrer mit solchen ungelösten Fragen vor die Schüler tritt?
Ist das nicht eine Situation, vor der ein Lehrer bei allen ernsten Fragen steht? Das gibt es doch immer wieder, zum Beispiel bei religiösen oder ökologischen Themen, die schwierige Entscheidungen nach sich ziehen. Da ist es nie gut, wenn ein Lehrer mit einer dogmatischen Lösung daherkommt.
Bedeutet das, dass die alte Lehrerrolle des Alleswissers nicht mehr möglich ist, wenn man mit der Gentechnik in die Schule geht?
Es hieße sogar, dass die Lehrer Fremdbestimmung betreiben würden, wenn sie eindeutige Antworten auf ethisch und politisch so vielfältige Fragen in die Klassen hineindekretieren wollten. Die Schüler sind es doch, die mit dem Klonen oder der Präimplantationsdiagnostik in fünf oder zehn oder zwanzig Jahren konfrontiert sein werden, nicht die Lehrer.
Sie plädieren für einen fächerübergreifenden und praxisnahen Unterricht. Die Lehrpläne sehen so etwas aber in aller Regel nicht vor.
Es wäre furchtbar, wenn sie aus lauter Zwang der Stundentafel nicht in der Lage sind, so etwas interdisziplinär zu behandeln. Jetzt die Fakten zu liefern – und deren Interpretation zwei Jahre später in einem anderen Fach, das wäre gerade beim Thema Gentechnik unangemessen.
Der Modedesigner Wolfgang Joop meint, es sei bald ganz normal, dass sich Mütter „Töchter bestellen“, die irgendeinem Supermodel mehr ähneln als ihnen selbst . . .
. . . weil das alles so easy sei und technisch machbar ist? Das ist es eben nicht. Wenn dieser Dr. Seed aus Chicago, der vor zwei Jahren eine Klonierungsklinik für Menschen eröffnen wollte, wirklich damit anfangen würde, müsste man die Polizei rufen. Denn das Einzige, was ihm sicher gelänge, wären viele, viele schwerst geschädigte Kinder. Niemand hat das Recht, solche Versuche durchzuführen. Bereits das erste erfolgreiche Klonen von Krallen-fröschen erzielte 1968 in Oxford ein verheerendes Ergebnis, weil fast alle weder Krallen entwickelten noch Frösche wurden. Auch für Dolly wurden 273 Föten „verbraucht“, ehe ein gesundes Lämmchen entstand.
Mit Dolly trat die genetische Manipulationsfähigkeit ins Bewusstsein der Menschen. In der Wissenschaft war der Fall freilich umstritten. War das Lämmchen wirklich geklont, oder war es das genetische Duplikat eines anderen Schafes?
Dolly war das erste Säugetier, mit dem man das gemacht hat. Daher wurde es zum in der Öffentlichkeit am meisten diskutierten Fall. Allerdings lieferte die erste wissenschaftliche Veröffentlichung keinen vollständigen Beweis dafür, ob Dolly ein Klon war.
Trotzdem: Das herrschende Schönheitsideal, die gentechnischen Möglichkeiten und die Übertreibungen der Medien, das wird bei vielen Menschen Begehrlichkeiten wecken. Was sagen Sie einem Schüler, der Sie fragt, was er vom Klonen grundsätzlich halten soll?
Ich will niemandem verbieten, dass er sich einen Doppelgänger anschafft. Es wäre aber eine sorgfältige Überlegung wert, einmal zu fragen: Was soll das eigentlich? Was heißt das, wenn man etwa aus einer Hautzelle von meiner Hand hier einen Menschen klont? Wie kann man zu so einer Obszonität kommen, sich verdoppeln zu lassen? Ist das nicht Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild so verliebt, dass er dabei zu Grunde geht? Ist das nicht der auf die Spitze getriebene Selbstbetrug, die Endlichkeit des eigenen Seins zu perpetuieren? Dabei schafft man schließlich einen zweiten Menschen – der einem richtiggehend zeigt, dass man überflüssig geworden ist.
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