wir müssen wissen (7)
: Kopfgeburt Kanon

In der griechischen Mythologie gibt es die Geschichte über die Entstehung der Wissenschaft. Wissen und Weisheit stehen darin in krassem Gegensatz. Die Göttin Athene ist die allegorische Repräsentantin des Wissens. Athene wird unter Schmerzen geboren – aus dem Kopf des Obergottes Zeus, der mit ihr im Kopf so große Schmerzen kriegt, dass er brüllend durch den Olymp tobt, bis ihm einer den Kopf spaltet (daher Spalttablette).

Aber Athene wird nicht mit Lust und Liebe gezeugt. Vielmehr entsteht sie durch Betrug und Mord. Denn Zeus hatte sich mit der Weisheit eingelassen. Die ward schwanger von ihm. Seine angetraute Frau sagte daraufhin: Wenn das noch mal passiert, wird das Kind aus dieser Verbindung dich genauso umbringen, wie du deinen Vater umgebracht hast. Da Zeus wohl wusste, wie er das getan hatte (er hatte ihm das Geschlechtsteil ausgerissen), wollte er alles tun, um dies zu vermeiden. Dazu verführte er die Weisheit, sich in eine Stubenfliege zu verwandeln und – schwupps – hatte er sie gefressen. Und als er die Weisheit gefressen hatte, als sie also abgetötet war, verwandelte sie sich in Wissen – und bereitete ihm Kopfschmerzen.

Ein Wissenskanon ist also eine sterile Kopfgeburt, ein Herrschaftsinstrument, mit dem Menschen ausgeschlossen werden. Jemand weiß nicht, wer Shakespeare war, hält ihn gar für einen Kinoregisseur – und die TV-Nation schlägt sich vor Überlegenheit auf die Schenkel. Die gleichen fröhlichen Vertreter des Wissenskanons können selber oft keinen Ölfilter wechseln, denn das ist niedriges Wissen. Ihnen fehlt auch die Weisheit der sich aufs Leben einlassenden Lebenserfahrung. Sie können vermutlich keinen Sterbenden trösten oder sich Trauer und Zwiespalt aussetzen.

Wissen und Wissenskanon sind häufig das Isoliermittel, um sich auf erschreckende Ungewissheit und Ausweglosigkeit nicht einlassen zu müssen. Natürlich will ich, dass mein Zahnarzt weiß, was er tut, genauso wie der Automechaniker oder der Pilot. Das ist aber nicht der Wissenskanon. Denn das funktionale Berufswissen kann und will nicht universell sein. Der Wissenskanon beansprucht aber diese Universalität. Wo also, außer in der Herrschaft, sind wir universell berufen zu wissen?

Wenn man alle Vereinzeltheit und Spezialisierung abzieht, bleibt tatsächlich nur noch die Mitmenschlichkeit – und die ist Weisheit und nicht Wissenskanon. WOLF WAGNER

Wolf Wagner ist Autor des legendären Buches „Uni-Angst und Uni-Bluff“. Vor ihm schrieben u. a. Bundestagspräsident Thierse (taz v. 20. 12. 00), Klaus Wagenbach (15. 11.) und Arbeitgeberpräsident Hundt (1. 11.) über den Bildungskanon.