: „Die Zeit der Gnadenhaltung ist zu Ende“
Der Schweizer Philosoph Hans Saner über Einwanderung, Integration und die Unanständigkeit der Toleranz, die bloß duldet und darüber hinaus eine Struktur besitzt, in der man von oben nach unten, von Mehrheit zu Minderheit toleriert. Als demokratische Basis heutiger Gesellschaft ist das nicht genug
Interview AGNIESZKA VON ZANTHIER
Herr Saner, ist es schlimm, wenn die Bürger eines Landes ihre Gastfreundschaft an die Forderung nach Anpassung und Integration knüpfen?
Man soll zunächst die Unterscheidung machen zwischen der Assimilation und der Integration. Die beiden haben nicht dasselbe Subjekt. Bei der Assimilation ist das Subjekt der Fremde, der sich angleichen soll. Bei der Integration ist das Subjekt das Gastland, das sozusagen die Arme öffnet und den Fremden aufnimmt und eingliedert. Die meisten Menschen wissen übrigens nicht, dass „integratio“ ursprünglich „Erneuerung“ hieß. So bedeutete etwa die „integratio amoris“ die Erneuerung einer Liebesbeziehung. Erst später hat die Vokabel durch die mathematische Sprache eine ganz andere Bedeutung angenommen. Integrieren, etwas in eine Ganzheit hineinnehmen, ist nicht dasselbe wie summieren. Wenn man B in A integriert, entsteht nicht A plus B, sondern es entsteht C, etwas Neues. Und jetzt kommt wieder die Sache mit der Erneuerung: A kann nicht etwas integrieren, ohne sich selbst zu erneuern und zu verändern. In der Regel sagt man zwar „Integration“, aber meint „Assimilation“, d. h., man erwartet, dass sich der andere verändert, sich angleicht, und wäre dann bereit, ihn zu akzeptieren, aufzunehmen. Das ist nicht Integration, die bedeuten würde, dass beide sich verändern und dass es zu einer neuen Ganzheit kommt.
Gibt es also Ihrer Meinung nach eine Pflicht zur Integration, und zwar für beide – das Gastvolk und die Fremden?
Ich weiß nicht, ob es eine Pflicht zur Integration gibt. Aber es gibt ganz sicher keine Pflicht zur Assimilation, weil es ein Grundrecht auf eigene Kultur gibt, wo immer man sei. Ich halte dieses Grundrecht für ein Menschenrecht – unter der Einschränkung, dass man andere Kulturen dadurch nicht schädigt oder verletzt. Wenn es so etwas wie ein Grundrecht auf eigene Kultur gibt, darf es keine Forderung nach Assimilation geben. Dann müsste es denen, die kommen, anheim gestellt bleiben, ob sie sich assimilieren wollen oder nicht.
Wenn sie es aber gar nicht wollen? Wenn sie sich hinter der Mauer des selbst gebauten kulturellen Ghettos verstecken?
Es gibt tatsächlich Menschen und Gruppen, die die „Iseration“ wählen, die gar nicht integriert werden wollen, die, wenn man die Arme ausbreitet, sagen: „Danke schön ... wir sind für uns.“ Falls es ein Grundrecht auf eine eigene Kultur gibt, müsste es ein Grundrecht auf eine Iseration geben. Allerdings gibt es da ein Problem: Wenn die Iseration streng genommen wird, findet keine Kommunikation statt. Und deshalb votiere ich nicht für dieses Modell. Man müsste vielmehr sagen können: „In Ordnung; ihr könnt eure Kultur behalten, aber wir wollen miteinander reden.“ Also es muss etwas da sein, was über die Iseration hinausgeht, sonst ist sie ein Ghetto.
Es reicht also nicht aus, dass sich die Fremden an die Verfassung und an die Gesetze halten?
Es ist selbstverständlich, dass sich Menschen, die in einen Rechtsraum hineinkommen, an dessen Recht halten. Das machen wir im Übrigen auch, wenn wir irgendwo in die Ferien fahren oder über das Wochenende in eine Stadt. Da muss man nicht den Hebel ansetzen. Es geht offensichtlich um andere Bereiche der Kultur: eben um die Sprache. Es besteht ein legitimes Interesse der Gastkultur, dass Menschen, die zu uns kommen, unsere Sprache erlernen. Nur bin ich der Meinung, dass man dies nicht mit Druck durchsetzen sollte, sondern in der Form eines Angebots. Man müsste den Menschen klar machen, dass sie und ihre Kinder einfach bessere Chancen haben, wenn sie Deutsch lernen, dass die Aneignung der deutschen Sprache in ihrem eigenen Interesse liegt.
Auf einen längeren Zeitraum gesehen, muss man sich fragen, wie man das Sprachproblem weltweit lösen kann. Man könnte sich etwa überlegen, auf der Ebene der UNO oder der Unesco eine universale Zweitsprache einzuführen, die die Kinder überall in den Schulen früh erlernen. So wie die Welt nun einmal ist, könnte es nur Englisch sein. Wir hätten dann überall, wo wir hinkommen, eine Brücke der Kommunikation. Eine solche Lösung würde auch die Muttersprachen schützen. Die Sprache Nummer eins wäre überall die Muttersprache, die Sprache Nummer zwei die universale Zweitsprache. Aber auch dann wäre es von Vorteil, wenn wir die Sprache eines Gastlandes sprechen würden.
In Deutschland hat man nicht selten den Eindruck, dass sogar die sehr engagierten gestrigen Anhänger von dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft abrücken. Haben wir es mit einer neuen europaweiten Tendenz zu tun?
Wir können davon gar nicht abrücken, weil die Länder kulturell bereits durchmischt sind. Bei uns in Basel – Basel ist sehr viel kleiner als Berlin – werden 150 Muttersprachen gesprochen. Es werden alle Religionen praktiziert, die man kennt. Ein Drittel der Bevölkerung sind AusländerInnen. Wir leben faktisch multikulturell, auch wenn es keine Theorie des multikulturellen Lebens geben sollte. Dass sich aber nicht wenige über Multikulti lustig machen, zeigt doch eher ihre Gedankenlosigkeit. Die normative Kraft des Faktischen wird uns dazu zwingen, die Formen des multikulturellen Zusammenlebens noch einmal zu durchdenken.
Hat denn die ganze Diskussion, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland ist oder nicht, aus Ihrer Perspektive einen Sinn?
Mit der Zeit wird sie sich erübrigen. Denn wir werden in absehbarer Zeit qualifizierte Ausländer und Ausländerinnen suchen. Wenn die Extrapolationen der Bevölkerungsentwicklung nicht ganz falsch sind, werden die Populationen der europäischen Länder abnehmen, in Italien zum Beispiel in den nächsten 50 Jahren vielleicht um ein Drittel! Wir werden bald darauf angewiesen sein, dass Menschen von außen kommen, falls wir den Lebensstandard auf einem gewissen Niveau halten wollen.
In Deutschland ist das Problem ja im Zusammenhang mit der Computertechnologie bewusst geworden. Die Schweiz etwa könnte keinen Tag weiterexistieren ohne AusländerInnen. Soll man die Menschen hereinholen und ihnen sagen: „Aber bitte schön, ihr müsst unsere Kultur als Leitkultur übernehmen?“ Das Ausländerproblem wird sich im kommenden Jahrhundert umkehren. Wir werden dankbar sein, wenn wir gut qualifizierte Menschen finden, und wir werden für sie Einwanderungsländer sein.
Spätestens bei einem solchen Szenario stellt sich die Frage, wie es dann zu vertreten ist, dass ein immer höherer Anteil der Bevölkerung aufgrund seines Aufenthaltsstatus von dem Mitbestimmungsrecht ausgeschlossen ist. Sollten Ihrer Meinung nach Ausländer, die vorübergehend oder auf Dauer – ohne die Staatsangehörigkeit anzunehmen – in einem Land leben, in irgendeiner Form an der politischen Entscheidungsfindung teilhaben?
Ich kann es nicht verstehen, weshalb Menschen, die bei uns arbeiten, wirklich das Land mitaufbauen und hier ihre Steuern bezahlen, nicht mitreden sollen. Diese fast überall gängige Praxis ist, menschenrechtlich gesehen, unerträglich. Ich bin der Meinung, das Mitspracherecht sollte durch die Mitarbeit begründet sein. Man könnte und sollte den AusländerInnen anbieten, dass sie während der Zeit ihrer Mitarbeit auch mitbestimmen. Dieses Recht würde wieder erlöschen, wenn sie zurückgehen, oder auch dauerhaft werden, wenn sie längere Zeit bleiben und dies beantragen. Ich denke also an eine neue Institution der Bürgerrechte auf Zeit.
Was ist denn, angesichts dieser seit einigen Jahrzehnten wachsenden Mobilität der Völker, der Umwandlung der – mehr oder weniger – homogen strukturierten in multikulturelle Gesellschaften, gefragt? Ist es die Toleranz?
Nein, es geht eben nicht, dass man das Zusammenleben auf den Begriff und die Praxis der Toleranz aufbaut – wie alle Welt immer wieder sagt. Toleranz ist die Haltung, Menschen und ihre Kulturen bloß zu dulden. Menschen haben aber ein Existenzrecht und ein Recht auf eigene Kultur. Und diese Rechte müssen anerkannt und nicht bloß geduldet werden. Die Toleranz hat überdem eine vertikale Struktur. Man toleriert immer von oben nach unten, von der Mehrheit zur Minderheit. So sagt man etwa, dass die Christen die Juden tolerieren, aber in unserer Kultur niemals, dass die Juden die Christen tolerieren. Die Christen sähen darin eine Unverschämtheit. Toleranz ist ein Gnadenakt derer, die glauben, alleine im Recht und in der Wahrheit zu stehen. Man lässt die anderen gewähren, obwohl man es vorzöge, dass sie anders lebten oder gar anders wären. Die Toleranz ist in der Regel zwar besser als Intoleranz. Aber das Fundament der Demokratie kann sie nicht sein und insbesondere nicht das Fundament einer multikulturellen Welt. Vielmehr ist dieses Fundament die Anerkennung des Rechts auf eigene Kultur, die moralische Haltung der wechselseitigen Achtung und der Wille zur Kommunikation und Kooperation. Die Zeit der Gnadenhaltung ist abgelaufen. Wir müssen lernen, auf der Ebene der Grundrechte neu zu denken, zu reden und miteinander zu leben.
Agnieszka v. Zanthier, Dr. phil., polnische Journalistin und Übersetzerin, seit 1987 in Berlin und im Brandenburgischen
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