piwik no script img

Den Markt ignorieren

HOCHSCHULEN IN DER KRISE (6): Muss das Studium wirklich praxisorientiert werden? Auf gar keinen Fall: Je flexibler die Berufswelt, desto freier sollte das Studieren sein

Die Praxis wird entwertet, wenn man glaubt, sie ließe sich nebenher an der Uni erwerben

Es vergeht kaum ein Text über Hochschulreformen, der nicht den „Praxisbezug“ vermisst. Das Studium gilt als verträumt und weltenfern – als eine skurrile Lebensphase, in der altmodische Bildungsideale liebevoll gepflegt werden. Als ein Ort, der anscheinend noch nie vom Phänomen „Markt“ gehört hat. Also werden knallharte Alternativen formuliert: „Das deutsche Hochschulwesen muss sich über eines klar werden“, so kürzlich ein Personalvorstand im Spiegel unerbittlich: „Will es für die wissenschaftliche Welt ausbilden oder für die Arbeitswelt?“

Ziemlich plötzlich entsteht ein neues Ideal der Universität: Zunehmend wird sie als eine Art höhere Berufsschule verstanden, wird das „duale System“ der deutschen Lehrberufe auch aufs Akademische übertragen. In den Semesterferien bitte Praktika, damit im Semester die unmittelbar nützliche Theorie folgen kann. Und was als nützlich zählt, zählen alle Texte kanonisch auf. Fremdsprachen sind erwünscht, möglichst drei natürlich; dazu passt der Auslandsaufenthalt, der in keiner idealen Biografie fehlen darf. Sehr wichtig: die Beherrschung des Computers und des Internets. Zentral: Teamfähigkeit und soziale Kompetenz.

Wer schon länger berufstätig ist, wird bestätigen: Ja, diese Fähigkeiten helfen weiter. Aber die monomanische Ausschließlichkeit der Liste erstaunt. Würde es tatsächlich stimmen, dass die Hochschulen nur diese Kenntnisse vermitteln sollten – es wäre am schlausten, sich gar nicht erst einzuschreiben. Internet und Fremdsprachen: lernt man schneller an einer Fremdsprachenschule. Abschluss: staatlich geprüfte/r Fremdsprachensekretär/in. Dauert ein Jahr.

Oder Teamfähigkeit und soziale Kompetenz: Auch dort sollte man nicht auf die Universitäten vertrauen. Denn selbst wenn die vielen studierenden Einzelkämpfer in Gruppenprojekte gezwungen würden, wäre es noch nicht die Praxis. Klar. Aber wirklich enttäuschend: Es wäre nicht einmal die Simulation der Praxis. Um die Praxis kann sich nur die Praxis kümmern. Wie man mit aufgebrachten Kunden telefoniert, mit lästigen Chefs umgeht oder umgekehrt anspruchsvolles Personal führt – dies sind in der Tat Schlüsselqualifikationen. Aber diese dienlichen Fähigkeiten lassen sich nicht im Studium erwerben, sondern nur im jahrelangen Nahkampf des Berufsalltags. Die Debatte um den „Praxisbezug“ ist paradox: Obwohl doch stets als Herausforderung proklamiert, wird die Praxis gleichzeitig entwertet, wenn behauptet wird, das Ergebnis langjähriger Berufserfahrung ließe sich wie nebenher in Traineekursen an den Hochschulen aneignen.

Eine weitere Erstaunlichkeit der Debatte: Vom „Praxisbezug“ wird so selbstverständlich geredet, als wäre klar, wie die angehende Praxis der Studierenden beschaffen sei. Dies ist jedoch völlig unklar, weil sehr viele Akademiker nie in die vorgesehenen Berufe finden werden. Die Zahlen sprechen für sich: Es gibt 61.500 fest angestellte Redakteure in Deutschland – etwa genauso viele wollen es werden, schätzen die Berufsverbände. Ein ähnliches Missverhältnis zeigt sich bei den Anwälten: 1999 waren 104.067 zugelassen, fast ebenso viele Jurastudenten sind an den Universitäten eingeschrieben. Zwar werden einige in Behörden und Politik ausweichen können, aber eben längst nicht alle. Bei den Architekten sieht es kaum besser aus: 89.685 arbeiten in diesem Beruf, 47.962 studieren darauf hin. Und schließlich die Mediziner: 291.171 wirken als Ärzte; etwa 12.000 verlassen jedes Jahr die Hochschulen. Doch obwohl die Relation nicht ungünstig scheint, sind inzwischen 8.000 Ärzte als arbeitslos gemeldet – sie sind also noch nicht einmal als Vertreter in der Pharmaindustrie untergekommen.

Gibt es nicht wenigstens eine Ausnahme? Ein kleines gallisches Dorf im Römischen Reich der großen Ungewissheit? Aber ja doch: Momentan fehlen bekanntlich Informatiker. Allerdings wurde vor fünf Jahren noch im Gegenteil bedauert, dass es zu viele von ihnen gäbe. Prompt zeigten sich die Studierenden praxisorientiert und mieden diese Disziplinen. Daher jetzt der Mangel. Doch kaum wurde er durch die Green-Card-Initiative pathetisch symbolisiert, rauschte es schon durch die Nachrichtenagenturen: In diesem Wintersemester wählten 36 Prozent mehr Studierende die Informatik. Das Schicksal dieser Erstsemester ist recht sicher abzusehen: In fünf Jahren sind sie Teil einer Schwemme.

Es bleibt dabei: Ein Studium kann nicht garantieren, dass sich der klassische Berufsweg anschließt. Aber das ist weniger tragisch, als es aussehen könnte. Denn Akademiker sind von der Arbeitslosigkeit am wenigsten betroffen, auch wenn es bei den meisten anders kommt als gedacht. Physiker werden persönliche Referenten von Politikern, Verfahrensingenieure managen den Devisenfluss ihres Unternehmens, Volkswirte machen Öffentlichkeitsarbeit ...

Offensichtlich wäre es aussichtslos, diese bunte Vielfalt der Karrieren „praxisbezogen“ schon im universitären Lehrplan vorauszusehen und, nur weil einige Volkswirte in die PR-Maschinerie abgewandert sind, künftig alle VWL-Studenten zu einem mehrsemestrigen Kurs über Öffentlichkeitsarbeit zu zwingen. Das Umgekehrte ist richtig: Je flexibler die Welt draußen wird, desto befreiter sollten sich die Hochschulen von der Praxis fühlen und sich ganz der Wissenschaft hingeben.

Wer Fremdsprachen oder Computerkenntnisse erwerben will, sollte eine Fremdsprachenschule besuchen

Denn paradoxerweise bilden die Hochschulen am besten aus für den „Markt“, wenn sie ihn scheinbar ignorieren. Wenn sie sich auf das besinnen, was ihr Angebot einzigartig macht, was sie etwa von einer Fremdsprachenschule unterscheidet: die Ausbildung zum analytischen Denken. Es ist zudem ein Angebot, das immer mehr Nachfrager hat – immer mehr Schüler studieren, immer mehr Unternehmen suchen Akademiker. Beide Gruppen wissen, dass es ausgerechnet ein Fachstudium ist, das im Beruf flexibler und mobiler macht. Gerade die exemplarische Vertiefung ermöglicht hinterher die Breite, die dazu führt, dass Physiker zu Politikberatern werden. Doch sind diese analytischen Fähigkeiten nicht als theoretisches Beiwerk zum Praxiskurs zu haben. Stattdessen erfordert es intensives, langes Training in einer Wissenschaft – und Zeit für kreatives Nachdenken.

Die Forderung nach dem „Praxisbezug“ ist irrational. Also steckt vermutlich Angst dahinter. Und ängstlich sind die Studierenden (wie auch ihre Eltern). Denn obwohl die akademischen Berufssichten nicht schlecht sind, sind sie eben vage. Leider hat eingeschränkte Sicherheit die Eigenschaft, uneingeschränkt zu verunsichern. Dass die eigene Zukunft nicht planbar ist, das verstört und darf nicht wahr sein. Lieber wird „Praxisbezug“ gefordert. Es ist eine Abart des magischen Denkens: So wie andere den Regen herbeibeten, so will man in Deutschland Berufssicherheit herbeireformieren. Und ähnlich wie das Regenritual umso fleißiger befolgt wird, je größer die Dürre ist – genauso gibt sich die Hochschuldebatte umso berufsorientierter, je mehr die klaren Berufsbilder im Wirtschaftsalltag verschwimmen. ULRIKE HERRMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen