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Das Krankenhaus der Märtyrer

Hathem Emad ist 16. Eine Kugel traf ihn von hinten ins Bein. Das macht ihn zum Helden – und zum Propagandamaterial der palästinensischen Presse

„Dreihundert getötete Palästinenser jedoch steckt die Weltöffentlichkeit weg, als sei das gar nichts“

aus Ramallah SUSANNE KNAUL

Schon am frühen Morgen bildet sich am Informationsschalter im städtischen Krankenhaus von Ramallah eine lange Schlange. Es sind die Mütter und Väter derer, die in der vergangenen Nacht bei Unruhen mit israelischen Soldaten verwundet wurden. Der Polizist Abd-el Rahman Jabarin ist einer von ihnen. Die zwei Kugeln, die sein Bein trafen, wurden schon herausoperiert. Ob er jemals wieder schmerzfrei laufen wird, wollen die Ärzte ihm nicht versprechen. An seinem Bett sitzen seine Verlobte und die Eltern. „Er wollte einem Verletzen zu Hilfe kommen, als die Soldaten auf ihn schossen“, sagt sein Vater. Und dann sagt er noch: So wie die Israelis sich verhalten, werde es niemals Frieden geben.

Am benachbarten Bett greift eine Anfang-40-jährige Frau die Hand ihres Sohnes. Hathem Emad (16) war ebenfalls in der Nacht mit einem Beinschuss eingeliefert worden. „Als die Frau am Informationsschalter mich zur Orthopädie schickte, war ich schon erleichtert“, sagt seine Mutter und lächelt. Die schweren Fälle liegen nicht hier im dritten Stock. „Ich habe keine Angst“, sagt Hathem Emad. In seinem ernsten Gesicht deutet sich der erste Bartwuchs an. „Es ist mein Land, für das ich kämpfe.“ Hathem Emad war angeschossen worden, als er zusammen mit Freunden Steine auf einen israelischen Militärjeep warf. Die Kugel traf ihn von hinten. „Ich habe gar nicht gesehen, wer auf mich geschossen hat.“ Gegenüber von Hathem Emad liegt ein elfjähriger Junge, der schon zum sechsten Mal verwundet ist. Wenn er erst wieder gesund ist, will er wieder auf die Straße gehen.

„Wir gehen immer nach der Schule zum Kontrollpunkt, um die Soldaten zu bestrafen“, sagt Hathem Emad. Anschließend geht er nach Hause, isst zu Mittag, macht seine Schularbeiten und abends treffen sich die Freunde wieder am Checkpoint. Einer seiner besten Freunde ist schon in den ersten Tagen der Unruhen erschossen worden. „Gott ist mit uns. Wenn wir sterben, dann ist es Gottes Wunsch.“ Kämpfer wie Hathem Emad werden hier die „Kinder der Steine genannt“ – häufig zu jung, um Auto zu fahren, nicht zu jung, um zu kämpfen.

Im städtischen Krankenhaus von Ramallah sind bislang 30 Menschen gestorben, mehr als 300 Palästinenser sind es seit Beginn der Unruhen Ende September. Zwischen 60 und 80 Prozent der eingelieferten Fälle seien Schussverletzungen im Oberkörper, sagt der Direktor des Hospitals, Dr. Husni Atari. Er selbst operiert täglich mindestens drei Mal Patienten mit orthopädischen Verletzungen. „Die gummiumhüllten Stahlgeschosse sind kaum weniger gefährlich als die normalen Kugeln“, sagt er und zeigt ein Röntgenfoto. Der sechsjährige Junge, dessen Schädel auf dem Foto abgebildet ist, starb an einer gummiumhüllten Stahlkugel, die seine Stirn durchbohrte. Knapp ein Drittel der Verletzten seien unter 16 Jahre alt. Bislang gibt es hier weder Engpässe in der Bettenzahl noch an Medikamenten, wie es in vielen anderen Häusern der Fall ist. Insgesamt wurden aus dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland knapp 400 Patienten zur langfristigen Weiterbehandlung ins Ausland, meist nach Jordanien oder in andere arabische Länder, transportiert. Auch die Bundesrepublik hat 50 Fälle übernommen. Eine Gruppe Patienten, die in den Irak gebracht wurde, musste wieder zurückgeschickt werden, da es dort keine Behandlungsmöglichkeiten für sie gab. Der Irak gehört zu den Ländern, die insgesamt 100 Tonnen medizinische Hilfe an die Palästinenser schickten.

Auch zwischen den Palästinensern und Israel besteht eine medizinische Kooperation, wobei bislang nur zwei Verletzte der Al-Aksa-Intifada in Israel operiert wurden, darunter der Neffe von Mohammad Dahlan, Chef des palästinensischen Sicherheitsdienstes. Beide Patienten starben. „Manchmal sind Minuten entscheidend“, meint Dr. Atari, der Operationen in Israel „medizinisch nicht für sinnvoll“ hält. Grundsätzlich bestehe jedoch Vertrauen zwischen den Ärzten. „Wir behandeln jeden Patienten gleich, im Frieden wie im Krieg. Die Israelis tun das auch.“

Hathem Emad wird zur Weiterbehandlung nach Beitunia verlegt, das in der so genannten B-Zone liegt, in der noch immer die Israelis die Sicherheitskontrolle innehaben. „Ich muss noch einmal operiert werden“, sagt er. „Dabei geht es aber nur um die Schönheit“, sagt er lächelnd, als ihm das englische Wort für plastische Chirurgie nicht einfällt. Dabei ist sein Englisch fast fließend. Er war mit dem Vater für einige Wochen in den USA, erzählt er. Weil er in Jerusalem lebt, lernt er zudem auch Hebräisch. „Unsere Nachbarn sind Israelis, ich verstehe nicht, warum sie uns das antun“, sagt der Junge. An eine gerechte Lösung glaubt er nicht mehr. Auch nicht an eine Teilung des Landes. Bei dem Kampf auf der Straße ginge es um das ganze Land, um „Großpalästina“. Wer darin unter palästinensischer Herrschaft leben wolle, sei willkommen. „Arafat fordert nicht genug“, sagt Hathem Emad. Die Frage, ob er sich wie ein Held fühlt mit seinem verletzten Bein, verneint er. „Ich bin wie jeder andere, der ein Land hat und darin leben will.“

Fast täglich berichten die palästinensischen Medien von den „Kindern der Steine“, die – so die führungsnahe Tageszeitung Alhayat Al Jadida – „die Kugeln der Unterdrückung nicht fürchten“. Die israelische Seite macht vor allem das palästinensische Fernsehen dafür verantwortlich, das die Kinder mit anti-israelischer Hetze und der Verherrlichung des Kampfes und des Märtyrertums auf die Straße treibe. „Die Israelis sind Lügner und Mörder“, sagt Radwan Abu Ayash, Direktor des palästinensischen Fernsehsenders, „und sie gewöhnen sich mit ihrer Kolonialherrenmentalität schwer daran, dass wir eine freie und unabhängige Berichterstattung haben.“ Bis zur Autonomie mussten die Palästinenser sämtliches zur Veröffentlichung geplantes Material dem israelischen Zensor vorlegen. „Fernsehen, Radio und Zeitungen sind ein Spiegel der Ereignisse“, meint Abu Ayash. „Wenn es Frieden gäbe, würden wir über den Frieden berichten.“

Seit Beginn der Unruhen sendet das palästinensische Fernsehen stündlich jeweils 30 Minuten lang Nachrichten. Wenn in friedlichen Zeiten Sport, Musik und Serien gebracht werden, dreht sich das Programm nun 24 Stunden am Tag um die aktuellen Ereignisse, angefangen vom Frühstücksmagazin „Guten Morgen, Palästina“ über Talkshows und Sendungen, die per Telefonanrufe von den Zuschauern selbst mitgestaltet werden, bis zu psychologischen Beratungen für die traumatisierten Kinder. „Wir versuchen, ausgewogen zu sein“, meint der Fernsehdirektor. Ihn empört, dass „die Israelis aus jedem Toten eine großartige Story machen, während unsere Märtyrer Zahlen sind, Statistiken“. Um dem abzuhelfen, arbeitet im Auftrag des Fernsehens derzeit ein Kamerateam an der Verfilmung des Lebens von Muhammad Aldura, dem 12-jährigen Jungen, der gleich zu Beginn der Unruhen vor laufenden Kameras erschossen worden war.

„Hier geht es nicht um politischen Missbrauch eines traurigen Schicksals“, meint Abu Ayash, sondern „um die Inspiration durch die Vaterschaft. Andere Väter werden sich identifizieren.“ Schon jetzt gilt Muhammad Aldura als Märtyrer und Held, dem es offenbar zahlreiche Kinder gleichtun wollen. „Ich habe meinen Namen auf den Arm geschrieben“, zitiert die Alhayat Al Jadida einen Zehnjährigen, „damit ich leichter identifiziert werden kann, wenn ich Märtyrer geworden bin.“

„Wenn 300 Juden getötet worden wären, hätte das den Ausbruch des Dritten Weltkrieges zur Folge“

Dass Muhammad Aldura möglicherweise gar nicht von einer israelischen Kugel getötet worden ist, spielt für die Palästinenser keine Rolle. Abu Ayash tut die entsprechende militärische Untersuchung als Propaganda ab. „In Kanada hat eine jüdische Gruppe im Internet die Bilder von Muhammad Aldura veröffentlicht und ihm eine Kipa (jüdische Kopfbedeckung) aufgesetzt.“

Das Schicksal des Jungen sei symbolisch für „das Leid des palästinensischen Volkes; er ist Teil unserer Geschichte“. Die Verfilmung seines Lebens dient aber auch einer internationalen Öffentlichkeitsarbeit, die dringend notwendig sei. Nach Ansicht von Abu Ayash sei die Berichterstattung im Ausland nicht objektiv. „Wenn 300 Juden getötet worden wären, hätte das den Ausbruch des Dritten Weltkrieges zur Folge. 300 tote Palästinenser steckt die Welt weg, als sei das gar nichts.“ Die Unruhen seien besonders für die Israelis gefährlich, meint der Fernsehdirektor. „Mit jedem Tag wächst der Hass unter den Menschen. Heute kann man noch mit Abed Rabbo und Erikat verhandeln, aber morgen werden die Leute nur noch einen Führer in der Art eines palästinensischen Ariel Scharon akzeptieren.“

Tatsächlich sinkt die Unterstützung des gemäßigten Lagers unter den Palästinensern. Offiziell hält Arafat die Fäden noch in der Hand. „Wir sind Teil der PNA (Palästinensischer Nationale Autorität) und beziehen unsere Löhne von der Nationalverwaltung“, erklärt der Fernsehdirektor. „Mein Boss heißt Arafat.“ Der Palästinenserpräsident habe die „totale Kontrolle“ über alles, was in der Autonomiezone vor sich geht. Bei den „Kindern der Steine“ verliert die palästinensische Führung indes an Sympathie, genauso wie die Zwei-Staaten-Lösung für die meisten nicht mehr das Ziel ist.

Hathem Emad und seine Freunde würden bei Präsidentschaftswahlen ihre Stimme sicher nicht Arafat geben. „Wir brauchen eine völlig neue Führung“, sagt Hathem. Vielleicht wäre Marwan Barghouti, der Chef der Tansim-Gruppe, ein besserer Führer, meint er. Aber auch Barghouti kämpft für ein Ende der Besatzung nur in den palästinensischen Gebieten. Hathem glaubt vorläufig nur an die Fortsetzung eines Krieges, wobei „Steine nicht die Lösung sind. Was wir brauchen, sind Gewehre.“

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