: Kein „Stasischnitzeljagen“
Uwe Thaysen hat endlich die Wortprotokolle des Zentralen Runden Tisches der DDR ediert und publiziert. Seine Dokumentation ist eine Fundgrube für Forscher
Am 7. Dezember 1989, also vor elf Jahren, trat der Zentrale Runde Tisch in Berlin zusammen. An ihm trafen sich nach dem Vorbild anderer osteuropäischer Staaten Repräsentanten des „alten Systems“ und Vertreter der Opposition, die damit eine Art Vetoinstanz gegenüber der Modrow-Regierung einzunehmen suchte. Alle Gruppierungen durften jeweils zwei Personen benennen. Parität war beabsichtigt. Die letzte Sitzung – die 16. – fand am 12. März 1990 statt, wenige Tage vor der ersten demokratischen Volkskammerwahl. Bereits ein Jahr nach dem Zusammentreten des Runden Tisches wartete der Lüneburger Parlamentarismusforscher Uwe Thaysen, der als einziger Wissenschaftler von Anfang bis Ende als teilnehmender Beobachter dabei war, mit einer Analyse auf, die den Begriff „Standardwerk“ zu Recht beanspruchen darf. Es verging ein Jahrzehnt, ehe er die damaligen „Wortprotokolle“ vorlegen konnte. Das Warten hat sich gelohnt.
Die Erstellung eines Wortprotokolls anhand von Tonband- und Filmdokumenten ist wahrlich nicht einfach gewesen. Thaysen legt in seinem einleitenden Essay davon beredt Zeugnis ab. Vielfältige editorische Eingriffe waren vonnöten, ohne aber die Authentizität des Gesprochenen zu zerstören. Was er präsentiert, ist überaus aufschlussreich. Das Ancien Régime musste immer mehr Bastionen räumen. Wie sich nachlesen lässt, hat auch der Runde Tisch seinen Anteil am friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie, ebenso an der Niederzwingung des Staatssicherheitsdienstes und einer Nachfolgeorgansiation. Als in der 2. Sitzung des Runden Tisches der Sozialdemokrat Martin Gutzeit die Offenlegung eingeschleuster Stasispitzel in die oppositionellen Kräfte anstrebte, hielt Lothar Bisky die Einschleusung von Spitzeln für undenkbar. Nur Ibrahim Böhme, ausgerechnet er, schloss sich dem Wunsch Gutzeits an, während der langjährige Oppositionelle Reinhard Schult ein „Stasischnitzeljagen“ verwarf. Und bei der 6. Sitzung warnte Wolfgang Schnur – merkwürdig genug – vor einer „antifaschistischen Instrumentalisierung“. Böhme pflichtete ihm vehement bei. Solche Tricks haben den beiden Topspionen jedoch nicht geholfen.
Leider ist seinerzeit nur ganz selten das Abstimmungsverhalten protokolliert worden. Wäre dies festgehalten worden, ließe sich die zunehmende Vermischung und Verwischung der Fronten zeigen. Es lässt sich trefflich darüber streiten, wer wen über den Tisch gezogen hat: die Repräsentanten des alten Systems oder deren Gegner? Für beide Thesen finden sich Belege.
Allerdings war eine wesentliche Entscheidung bereits anderenorts gefallen: Die Volkskammer hatte das SED-Machtmonopol aus der DDR-Verfassung gestrichen. Es wäre beckmesserisch, würde der Kritiker fürwahr marginale Punkte aufzählen, zu denen die Vertreter am Runden Tisch – meist bierernst – Stellung bezogen haben. Improvisation der „Laienspieler“ war angesagt. Zuerst standen sich die „alten“ und die „neuen“ Kräfte gegenüber. Später bildete sich ein „neuer Machtkampf“ heraus: zwischen den gewendeten Vertretern der Blockparteien samt der SPD und einem Teil der oppositionellen Kräfte, auf deren Seite sich die PDS schlug. Wollten die einen eine (schnelle) deutsche Einheit (und westliche Wahlkampfredner), sperrten sich die anderen dagegen.
Viele derjenigen, die seinerzeit am Runden Tisch der SED, später der SED/PDS und schließlich der PDS Paroli geboten haben, sind heute bekannte Politiker: allen voran Rainer Eppelmann, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Günther Nooke und Matthias Platzeck. Marianne Birthler ist seit kurzem Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Andere wie Konrad Weiß haben sich aus der Politik zurückgezogen.
Die bestens edierten Protokolle sind mitsamt der Dokumente eine wahre Fundgrube für die Forschung. Sie zeigen einen wechselnden Frontenverlauf und machen klar, in welchem Maße die Repräsentanten aller Richtungen von der Straße „überrollt“ wurden. Mehr als ein Schönheitsfehler ist das fehlende Sach- und Personenregister. Es erschwert die Arbeit mit dem Mammutwerk. ECKHARD JESSE
Uwe Thaysen (Hg.): „Der ZentraleRunde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente.“ 5 Bände, 1148 S.(Bd. I–IV), 746 S. (Bd. V), Westdeutscher Verlag, Opladen 2000, 298 DM
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