: Das ganze Bild im Versuch
Neue Doku des NDR: „Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer“ ■ Von Heike Dierbach
Auf die Pressenotiz meldeten sich Hunderte. Wollten darüber sprechen, was sie erlebt haben, vor 56 Jahren, auf der Flucht vor der Roten Armee oder bei der Vertreibung aus Schlesien. Manche schickten ganze Stapel aufgeschriebener Erinnerungen an Hartmann von der Tann, den Chefredakteur der ARD. Die suchte Zeitzeugen für eine dreiteilige Dokumentationsreihe, für „den Versuch, das ganze Bild zu geben“: Bilder von Deutschen, die Opfer wurden. Weil Deutsche Täter waren. „Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer“, gestern in Hamburg vorgestellt, wird im März gesendet.
Die Reihe des Norddeutschen Rundfunks besteht aus drei 45-minütigen Dokus: „Flucht“ (Autor: Sebastian Dehnhardt), „Vertreibung“ (Christian Frey) und „Neubeginn“ (Matthias Prill), jeweils dargestellt an drei exemplarischen Orten. Für die Flucht sind es Breslau, Königsberg und Lodz. Gleich zu Beginn stellen die Filmemacher klar: „Die Vertreibung der Deutschen beginnt mit der Vertreibung der Polen.“ Zu Wort kommen, fast abwechselnd, damalige Flüchtlinge, Soldaten der Roten Armee und der Wehrmacht: Der Zuschauer wird gezwungen, immer wieder die „Seite“ zu wechseln, kann nicht bei dem Leid der einen verweilen und dabei das der anderen vergessen.
Manchmal sind es schlicht die Archivaufnahmen und Fakten, die für Differenzierung sorgen: So schildert der Film etwa die Tragödie der mit Frauen und Kindern vollbesetzten Wilhelm Gustloff, sagt aber auch, dass das in der Ostsee versenkte Flüchtlingsschiff keine Rot-Kreuz-Kennzeichnung trug, der Beschuss also „legal“ war. Mitleid mit den Flüchtlingen hat man deshalb nicht weniger.
Dass die Doku-Reihe so depolarisiert, ist aber auch ein Verdienst der ZeitzeugInnen, von denen viele erstaunlich reflektiert und ohne Bitterkeit, manchmal gar mit Humor berichten. Wie die Frau, deren Mutter beim Verlassen ihres Hauses alle Schrankschlüssel mitnahm und diese noch Jahre aufbewahrte – falls man einmal zurückkehren könne. Oder der ehemalige Angehörige der Waffen-SS, der heute erkennt, „was für ein Quatsch“ es war, im umzingelten, zerstörten Königsberg von Heldentum zu sprechen. Die Aussagen der damaligen Feinde stehen nebeneinander, nicht gegeneinander.
Außer beim Thema Vergewaltigungen. Eine alte Frau berichtet mit stockender Stimme, wie sie als 14-Jährige fünf Mal vergewaltigt wurde. Der damalige russische Militärstaatsanwalt rechtfertigt das heute noch mit dem „physischen Bedürfnis der Männer nach drei, vier Jahren Krieg“. An dieser Stelle ruft der Film Wut hervor. Aber es bleibt eine der wenigen. Dafür hat wohl auch die weise Entscheidung der Autoren gesorgt, keine Funktionäre zu Wort kommen zu lassen – obwohl die Vertriebenenverbände sich angeboten hatten.
Sendetermine ARD: 21. bis 23.3.2001 21.45 Uhr. Wdhlg. auf Phoenix: 23./24.3., 20.15 Uhr, 25.3., 21.15 Uhr, anschl. Übertragung einer öffentlichen Diskussion in Leipzig
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