: Wie man sein Erbe am elegantesten vernichtet
Die Tücken der Prozentrechnung
„Aggressiv kaufen“, sagt der Analyst auf n-tv über eine Aktie, die ich längst im Depot habe. Leider habe ich dafür mehr als doppelt so viel bezahlt – genau wie die Fondsverwalterärsche, die mir zuerst den Kurs kaputtverkauft haben und jetzt auf niedrigem Niveau „erste Positionen aufbauen“. Wer, wie ich, über seinen Discountbroker direkten Zugriff auf den Realtime-Xetra-Handel hat (gegen extra Gebühr), sieht spätestens jetzt, dass er mit 300 Telekom-Aktien noch ein kleines Lichtlein ist. 5.000 Stück werden hier locker in einer Order untergebracht, das sind bei Telekom sogar beim jetzigen Pleitekurs etwa 350.000 Mark. Wäre ich letztens bei einem Verkauf meiner Nokia-Aktien nur aufs Klo gegangen – ich hätte fast 1.000 Mark mehr bekommen.
Auch mit Gewinnen ist das Kleinanlegerleben nicht wirklich lustig: Wie oft bin ich im Prinzenbad rumgepaddelt und habe krampfhaft überlegt, ob ich 15 Prozent Gewinn wirklich schon mitnehmen sollte. Verkaufte ich, ging der Kurs weiter in die Höhe, verkaufte ich nicht, fiel er wieder. Trotzdem hält man (immer noch!) an dem wahnhaften Glauben fest, das System überlisten zu können. Man muss doch nur bei hohen Kursen aussteigen und bei niedrigen wieder ein. Funktioniert auch dreimal, geht dann aber auch zweimal voll in die Binsen. Meine Nokia hatte ich bei 47 gekauft, wollte sie bei 57 rausschmeißen (was wegen eines um 8 Cent verpassten Limits nicht klappte) und verkaufte sie dann nach dem Spruch von Alan Greenspan über eine drohende Rezession im Dezember bei 46. Dann hatte ich fest vor, bei etwa 41 wieder neu zu kaufen. Habe ich aus Angst vor weiter fallenden Kursen aber nicht getan. Ein paar Tage später, nach Greenspans Zinssenkung, liefen nachts so viele Orders auf, dass der Eröffnungskurs schon einige Prozent über dem Schlusskurs lag – tödlich, wenn man ohne Limit geordert hat. So wie ich. 48,35 bezahlte ich für die neuen alten Nokias. Dann fielen sie letzte Woche unter 40. Nur bei teilweisem Erfolg meiner eigentlichen „Strategie“ hätte ich einige Tausend Mark Plus gehabt – jetzt hab ich meinen Broker über hundert Mark reicher werden lassen und erst wieder Gewinne bei 51.
Schon merkwürdig mit solchen Zahlen im Kopf durch die Tage zu wandeln. Dann treten auch noch die wahnsinnigen Charttechniker bei n-tv auf, Zombies wie Clarissa Ahlers, und reden von Unterstützungslinien, die eigentlich halten sollten. Noch schöner aber ist, wenn man all sein mühsam ererbtes Kapital schon in Aktien hat und dann von „klaren Kaufsignalen“ gesprochen wird.
Wie letztens bei Intershop. Immerhin schon von 180 auf 34 gefallen, dachte ich mir hier schnell mal 20 Prozent (Gewinn!) zu machen. Wäre bestimmt bei 42 raus. Dann kam der 2. Januar. Immer noch von Silvester gezeichnet, schlief ich bis 11 Uhr. Griff zu Brille und Fernbedienung, wählte n-tv, Videotext-Tafel 220 und dachte, jetzt hätte ich eine perfide neue Augenkrankheit. Statt einer 6 zeigte meine Glotze ein Fragezeichen beim prozentualen Verlust, die zweite Zahl war eine lesbare 7. Der Kurs stand bei etwa 13. In nur zwei Stunden waren also Zweidrittel des Geldes futsch – Rekord – und ich dabei! Sollte ich nun noch verkaufen? Abends stand Intershop bei etwa 10. Ich hatte nicht verkauft und tat es auch nicht, obwohl ich sicher war, dass sie weiter fallen würde – was auch eintrat.
Ganz merkwürdig sind bei Kursstürzen die Tücken der Prozentrechnung. Ich habe hübsche 75 Prozent Verlust; um wieder bei null zu sein, müsste Intershop ums Vierfache steigen – 400 Prozent. Das gibt auch der irrste Neue Markt nicht her, geschweige denn der Videotext.
Erst nach Jahren ging mir auf, dass 20 Prozent Gewinn eine andere Summe sind als 20 Prozent Verlust. Auch deshalb ist die Parole „Verluste aussitzen“ meist Unsinn. Die großen Fonds loben jetzt wieder den Durchhaltewillen der kleinen Fische – weil wir so blöd sind, ihnen die Kurse „zu pflegen“.
Ich habe leider den leisen Verdacht, dass meine eigentliche Absicht zu sein scheint, das ererbte Geld möglichst elegant zu vernichten. Immerhin war mein Vater Roulettespieler, was er übrigens als „Arbeit“ bezeichnete. Er machte allerdings wirklich Gewinn damit.
Merkwürdig am Spekulantenleben sind Phänomene wie der zwanghafte Hang zum Schwarzfahren oder der Ärger über eine verlorene, fast volle Packung Zigaretten. Das ärgert mich mehr als ein Kurssturz. Vier Mark sparen ist natürlich nichts, wenn man im Laufe der U-Bahn-Fahrt ein paar hundert Mark gewinnt (oder verliert). Gönnerhaft fühlt man sich allerdings beim Barzahlen der 60 Mark Strafe. Inzwischen haben viele einen mittleren Neuwagen an der Börse verzockt. Da macht wenigstens das Schwarzfahren wieder Sinn. Sollte man nicht aggressiv Fahrkarten kaufen, um sie bei der nächsten Preiserhöhung noch zu verfahren oder zu verkaufen? Ich habe tatsächlich schon IC-Zuschläge gekauft, bevor sie eine Mark teurer wurden. Preisfrage: Wie viel Prozent teurer wird eine Bahnfahrt, wenn die Bahncard nur noch 25 Prozent Ermäßigung bringt? ANDREAS BECKER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen