: Von Bären und von Regeln
Unter welcher Bedingungen sind soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit vereinbar?Auszüge aus dem mit dem Rosa-Luxemburg-Preis geehrten Essay Gleicher als Andere
von CHRISTOPH SPEHR
In einer Hütte lebten drei Bären, zwei große und ein kleiner. Die großen Bären nennen ihn das „Prinzchen“. Wenn die großen Bären ihn rufen, sagt der kleine Bär „Nein“ und kommt, sobald es ihm passt. Er will keine Suppe essen, obwohl die gesund ist und gut schmeckt, sondern lieber Schinken. Später, wenn die Suppe längst kalt ist, isst er sie dann plötzlich. Zum Schlafen will er keinen Schlafanzug anziehen und möchte, dass das Licht brennt. Die großen Bären finden das nicht in Ordnung.
Die großen Bären gehen zum Therapiebären. Der Therapiebär malt ein Bild, auf dem der kleine Bär eine Krone trägt und die großen Bären vor ihm auf den Knieen liegen. „Genauso seid ihr“, sagt der Therapiebär. „Hängt das Bild zu Hause auf, und es wird euch helfen.“
Die großen Bären hängen das Bild zu Hause auf. Als der kleine Bär das nächste Mal sagt: „Ich will jetzt nicht essen kommen!“, sieht der eine große Bär das Bild an und sagt mit fester Stimme: „Prinzchen, du kommst sofort her, oder du gehst ins Bett!“ Das schockt den kleinen Bären. Der andere Bär will den kleinen Bären schon fragen, ob er lieber was anderes essen will, da sieht er das Bild an der Wand und sagt: „Basta. Wenn dir das hier nicht schmeckt – ab ins Bett.“ Im Bett heult der kleine Bär, weil er das Licht anhaben will. Aber niemand kümmert sich drum. Nach einer Weile bettelt der kleine Bär, dass er wenigstens einen Gutenachtkuss haben will, sonst gar nichts. Den kriegt er dann. Die großen Bären sind jetzt wieder sehr zärtlich und freundlich. Die großen Bären sehen, wie sich das magische Bild an der Wand langsam verändert: Die Krone des kleinen Bären verschwindet, und die großen Bären richten sich auf. Es sieht fast so aus, als ob der kleine Bär lächelt. So ist es gut!
Diese Geschichte, entnommen dem Kindermagazin Hoppla des Weltbildverlags, ist ein typisches Stück demokratischer Propaganda. Sie zeigt alle Muster und das ganze Grauen dieser Propaganda, wie sie heute auf allen Gebieten üblich ist. Woher nehmen die alten Bären das Recht, dem kleinen Bären zu sagen, ob er beim Schlafen Licht braucht? Wieso werden sie zu seinen Untertanen, bloß weil er nicht alles essen will, was ihm vorgesetzt wird? Wieso freuen sie sich nicht, wenn er seine Suppe doch essen will, sobald sie kalt ist? Wer stellt mehr Zumutungen an den anderen: der kleine Bär oder die alten Bären und ihre Welt, die eine einzige, polypenhafte Zumutung an den kleinen Bären ausspricht – sich einzufügen und sie zu akzeptieren, wie sie ist? Wieso gehört den alten Bären das Haus? Weil sie zuerst da waren? Weil der kleine Bär schwächer als sie ist? Oder weil sie definieren, was „vernünftig“ ist?
Wir leben in einer Welt, die von alten Bären gemacht und beherrscht wird – von der Schule zur Fabrik, von der Familie bis zur politischen Repräsentation, vom Kleinprojekt bis zur internationalen „Zusammenarbeit“. Es gibt immer Regeln, für die sich immer vernünftige Rechtfertigungen finden lassen. Irgendwie waren wir nie dabei, als sie ausgehandelt wurden. Einige neuere politische Theorien geben das offenherzig zu und behaupten, wenn wir dabei gewesen wären, hätte aber vernünftigerweise nichts anderes herauskommen können als genau diese beste aller möglichen Bärenwelten.
Die Geschichte von den drei Bären hätte so in West und Ost erzählt werden können. Wir neigen dazu, politische Freiheit mit dem real existierenden Kapitalismus zu assoziieren und soziale Gleichheit mit dem untergegangenen Realsozialismus, aber dabei geben wir uns mit einem bis zur Lächerlichkeit reduzierten Begriff von Freiheit und Gleichheit zufrieden.
Was ist „frei“ an einem Individuum, das sich politisch frei betätigen darf, der strukturellen Unterordnung und der Kontrolle der Öffentlichkeit durch Kapital und große gesellschaftliche Machtblöcke jedoch unverändert ausgesetzt ist? Was ist „gleich“ an einem Individuum, dessen Einkommen im Verhältnis zu anderen nicht geringer als ein Drittel oder ein Viertel ausfällt, dessen persönliche Gestaltungsspielräume oder politische Einflussnahme im Verhältnis zur oberen Funktionärsklasse und der ökonomischen Elite jedoch gegen null gehen? Der ganze Unterschied der Systeme schnurrt an diesem Punkt darauf zusammen, dass wir heute jungen Leuten, die fragen, wie sie denn frei und gleich werden könnten, sagen: „Werdet reich!“, während die klassische Antwort im realexistierenden Sozialismus lautete: „Wartet ab!“
Ein radikaler Begriff von Freiheit kann nur einer sein, der von Freiheit in der Kooperation handelt. Frei bin ich, wenn ich in meiner Verhandlung mit anderen frei bin, das heißt von keiner Instanz behindert und von niemand durch Zwang beschränkt. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass ich anderen in der Kooperation gleich bin: dass meine Kooperation keine erzwungene ist, sondern dass ich darüber mit anderen auf gleicher Ebene verhandeln kann, und dass dabei auch niemand über mir ist, dessen Regeln und Kontrolle ich unterworfen bin. Ein radikaler Begriff von Freiheit und von Gleichheit fallen zusammen.
Freie Kooperation, wie sie hier definiert wird, hat drei Bestimmungen. Freie Kooperation liegt vor, wenn die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein „höheres Recht“ zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition stehen, also von den Beteiligten jederzeit neu ausgehandelt werden können. Wenn alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu nehmen. Und wenn alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können, das heißt, dass der Preis dafür, die Kooperation zu verlassen beziehungsweise die eigenen Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf jeden Fall zumutbar sein muss.
Vereinfacht gesagt: In einer freien Kooperation kann über alles verhandelt werden; es dürfen alle verhandeln; und es können auch alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise leisten können, ihren Einsatz in Frage zu stellen. Die Freiheit zu verhandeln schließt die Freiheit ein, Verhandlungen scheitern zu lassen und zu gehen. Die Gleichheit der Beteiligten schließt dabei ein, dass sie nicht mit leeren Händen gehen, sondern einen Anteil an den bisherigen Früchten der Kooperation aus dieser herauslösen und in ihre eigene Verfügung zurückführen können.
Eine solche Definition ist keine theoretische Kopfgeburt. Sie lehnt sich an die reale Praxis von Emanzipation an; sie erwächst aus der sozialen Praxis und den Diskussionen der sozialen Bewegungen. Die feministische Bewegung beispielsweise hat die Realität der gemischtgeschlechtlichen Partnerbeziehung nachhaltig verändert. Sie hat dies jedoch nicht dadurch getan, dass sie Regeln für eine solche partnerschaftliche Kooperation aufstellte oder versucht hätte zu beschreiben, wie sie auszusehen hätte – „wie es richtig ist“.
Sie hat die Realität der Partnerbeziehung dadurch verändert, dass sie die Voraussetzungen dafür durchgesetzt hat, dass Frauen diese Beziehungen zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis verlassen können beziehungsweise ihre Kooperationsleistung einschränken. Durch ein verändertes Scheidungsrecht; durch eine verbesserte soziale Absicherung; durch die Kriminalisierung von Gewalt in der Ehe, durch eine Praxis, die das „Nein, wenn nicht ...“ auch emotional und psychologisch möglich gemacht hat.
Dies ist ein klassisches Beispiel linker Politik, die sich von rechter Politik dadurch unterscheidet, dass sie sich zur Idee der freien Kooperation bekennt; dass sie in allen gesellschaftlichen Bereichen und zwischen allen Akteuren versucht, freie Kooperation durchzusetzen; und zwar insbesondere, indem sie im Sinne des vergleichbaren und vertretbaren Preises Einfluss nimmt. Linke Politik kann die Ergebnisse freier Kooperation nicht vorwegnehmen, aber freie Kooperation hat Voraussetzungen, die stets neu hergestellt und durchgesetzt werden müssen. Genau diese sind der Inhalt linker Politik.
Aus dieser Sicht ist etwa eine Firma prinzipiell eine Kooperation. Eine Politik der freien Kooperation gibt nicht die Regeln vor, die in ihr benutzt werden; sie beschränkt sich darauf, für das Ausscheiden von Beteiligten die Regeln einer ordentlichen Scheidung einzufordern – und die vorfindlichen Regeln in der Firma nicht zu schützen. Das bedeutet: Im Falle des Ausscheidens eines Beteiligten wird nicht darüber spekuliert, wie es zustande gekommen ist (Zerrüttungsprinzip); es wird also zum Beispiel eigene Kündigung nicht durch Sperrung sozialer Unterstützungsleistungen sanktioniert. Umgekehrt wird der Betrieb, wie jede ökonomische Kooperation, als Zugewinngemeinschaft betrachtet. Wer ausscheidet, kann seinen Anteil (Nettogesamtkapital minus ursprüngliche Einlagen geteilt durch Beteiligte) herauslösen und mitnehmen.
Dass die Gesellschaft die spezifischen, vorfindlichen Regeln des Betriebs nicht schützt, erhält seine Bedeutung, wenn Beteiligte eine Betriebsversammlung einberufen und erklären, dass sie die Regeln ändern wollen: die Arbeitsteilung, die Entscheidungsfindung, die Gewinnaufteilung, die Arbeitsverträge, möglicherweise auch Ziel und Zweck des Ganzen. In diesem Fall einigen sich die Beteiligten entweder, oder sie einigen sich nicht. Wenn sie sich nicht einigen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Niemand will das Projekt weiterführen; einige wollen das Projekt weiterführen, andere nicht; mehrere Gruppen wollen das Projekt weiterführen, aber nicht miteinander. Im ersten Fall endet der Betrieb, verbleibendes Nettogesamtkapital wird aufgeteilt wie beim Ausscheiden Einzelner. Im zweiten Fall führen die den Betrieb weiter, die es wollen, und die anderen scheiden aus und nehmen ihren Anteil mit. Im dritten Fall teilt sich der Betrieb proportional zur Stärke der verschiedenen Gruppen.
Diese Herangehensweise schützt das Eigentum derer, die einen Betrieb gründen (oder in ihn einsteigen); es schützt allerdings nicht ihre Position. Falls ihnen die Entwicklung nicht zusagt, können sie es lassen und mit ihrem Anteil noch mal von vorn anfangen.
Würden sich dadurch alle Betriebe in belegschaftsgeführte verwandeln? Wahrscheinlich nicht. Es würde verschiedenste Modelle geben. Auch die „Kapitalisten“ des Betriebs können durch die Möglichkeit ihres Ausstiegs Druck auf die Regeln ausüben; falls sie über Fähigkeiten und Sachverstand verfügen, die in der Kooperation sonst nicht so gut vertreten sind, würde das Eindruck machen.
Es spricht viel dafür, dass sich für sehr große und lang bestehende Betriebe die Wahrscheinlichkeit erhöht, zu mehr oder minder belegschaftsgeführten Modellen überzugehen. Es ist aber nicht gesagt. Niemand muss die Regeln ändern. Aber alle könnten.
Betriebe in dieser Weise als freie Kooperationen zu behandeln, setzt voraus, dass soziale Sicherungssysteme existieren, die allen zumindest ein qualitativ ausreichendes Überleben garantieren, unter angemessener Berücksichtigung der individuellen Situation und des gesellschaftlichen Lebenshaltungsstandards. In voller Konsequenz könnte das heißen, dass die verschiedenen Sicherungssysteme zu einem einzigen Grundsicherungssystem zusammenfallen, das vollkommen unabhängige Leistungen zuweist, sozusagen eine Prokopfausschüttung eines Basisanteils an der gesellschaftlichen Wertschöpfung und am gesellschaftlichen Reichtum. In diesem Fall wären die Löhne vergleichsweise niedrig, und an Stelle mehrerer Versicherungssysteme und Lohnnebenkosten würde eine einzige Abgabe oder Steuer treten, die kapitalorientiert und nicht beschäftigtenorientiert erhoben würde. Zwischenstufen wären möglich und mit Sicherheit notwendig.
In einer solchen Struktur würden die Menschen als Arbeitende frei und gleich kooperieren. Sie wäre nicht, wie oft der Einwand lautet, an die Situation in hochentwickelten Industrieländern gebunden. Wo monetäre Sicherheitssysteme instabil und unsicher sind oder nur ein geringerer Teil der Wertschöpfung staatliche und betriebliche Haushalte passiert, besteht existenzsichernde Grundsicherung darin, Zugang zu Land zu haben, und wird unter Umständen eher kollektive als individualisierte Formen annehmen (also Zuteilung von Land an Familien und Gruppen).
Obwohl solche Formen von Betrieben als Kooperation der Logik kapitalistischen Eigentums diametral entgegenstehen, sind sie rechtlich ohne weiteres möglich. Man kann sie fördern. Man kann sie betreiben. Man kann die bestehenden Arbeitsstrukturen in einer Weise reformieren, die sich den Abbau von Verfügbarkeit zum Kriterium macht. Dies gilt für alle Akteure: Arbeitende, Gewerkschaften, soziale Bewegungen, Staat, Konsumenten. Es gilt auch für die „neuen Unternehmer“, die sich viel auf ihre soft skills und ihren partnerschaftlichen Stil einbilden und hier nachlesen können, was es heißt, damit wirklich Ernst zu machen.
Eine solche Politik, die beim Abbau von Verfügbarkeit an den jeweils vorhandenen Strukturen ansetzt und sie im Sinne freier Kooperation transformiert, bedeutet nicht, dass die bestehenden Eigentums- und Verfügungsverhältnisse als sakrosankt betrachtet werden müssten. Das tut selbst der existierende Realkapitalismus nicht, der kleines Eigentum systematisch enteignet (durch Steuern, Inflation, Wegfall von Ansprüchen), während er großes Eigentum systematisch beschenkt (durch Steuerausnahmen, Subventionen, „Staatsverschuldung“). Eine Politik, die Eigentum und Verfügung umverteilt oder in andere Eigentumsformen überführt, ist aufgrund des kollektiven und historischen Charakters von Arbeit grundsätzlich legitim. Nur löst sie damit noch nicht das Problem von Freiheit und Gleichheit.
Eine Politik der freien Kooperation verändert den Charakter von Kapital und Eigentum. Sie zielt wie beschrieben darauf ab, diesen Charakter als Herrschaftsinstrument abzubauen, egal wo dieses Eigentum allokalisiert ist. Auch für die ökonomische Kreativität der real life economics oder einer Wirtschaft von unten findet sich hier das zentrale Kriterium, ob eine andere Logik von Arbeit als Kooperation entsteht oder lediglich selbst organisierte Verfügbarkeit.
Dieses Kriterium lautet: die Verfügbarkeit in der Arbeit abzubauen; allen Strukturen gegenzusteuern, wo die einen „liefern“ und die anderen bestimmen; ökonomische Einheiten jeder Art grundsätzlich als Kooperationen aufzufassen und nach dem Leitbild freier Kooperation einzurichten. Wenn es irgendetwas gibt, was wir uns unter „wirtschaftlicher Freiheit“ vorstellen können, dann ist es das.
CHRISTOPH SPEHR, Jahrgang 1963, lebt in Bremen. Er ist Historiker und arbeitet für alaska – Zeitschrift für Internationalismus sowie als freier Autor. Zuletzt erschien von ihm „Die Aliens sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter“, Goldmann, München 1999, 319 Seiten, 18 Mark
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