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Der Geist von Yanan

Touristen kommen in die chinesische Stadt Yanan auf den Spuren des Großen Vorsitzenden. Hier lebte Mao nach dem Langen Marsch, hier können seine Arbeitsräume und sein ausgestopftes Pferd im Revolutionsmuseum besichtigt werden

von ROSEMARIE NÜNNING

Er wendet sich den Regalen zu, um Staub zu wischen. Es gibt nichts anderes zu tun, in den frühen Märztagen sind kaum Touristen unterwegs.

Nur einmal betrat doch jemand das Souvenirgeschäft, und er hatte sich in seinen Gedanken gestört gefühlt, die soeben seinen morgendlichen Weg zurückgegangen waren zu dem neu eröffneten Restaurant, durch dessen großes Fenster er einen Moment geschaut hatte.

Er überlegt, was ihn angezogen hatte: nicht der helle Fliesenboden, der jedes Spucken zu untersagen schien; nicht die jungen Frauen, die in einheitlich rotweißer Kleidung zu bedienen hatten, obwohl er kurz an dienen und arbeiten in Uniform gedacht hatte. An seine Mutter, die zu alt zum Arbeiten ist, aber immer noch als Zeichen für eine frühere Zeit den schweren blauen Arbeitsanzug nach dem Vorbild des Großen Vorsitzenden trägt.

Sie hatte sich neulich am Bahnhof eine Postkarte mit Maos Abbild gekauft, sein Blick über ein Tal schweifend. Yanans großer Reichtum sind Postkarten, die Mao zeigen: in Rot, Schwarz und Gold, in Schwarzweiß, als buntes Foto – am Schreibtisch in seinem Arbeitsraum auf einem der Hügel Yanans, mit einem Kind auf dem Arm, eine Katze streichelnd. Zehn Jahre hatte Mao hier nach dem Langen Marsch gelebt und Kräfte für die Revolution gesammelt. So wurde es in der Schule gelehrt.

Er lebt von den fremden Besuchern und den Tausenden, die die Betriebe im Sommer nach Yanan bringen, um die Symbole der Yanan-Jahre zu sehen, den Geist von Yanan zu atmen.

Am Abend des Tages, an dem seine Mutter die Postkarte gekauft hatte, deutete sie auf Maos glattes Gesicht, seinen nachdenklichen Blick nirgendwohin – auf jedem Bild ist Maos Gesicht in jedem Alter frisch und glatt. Wenn ich regieren würde, hatte sie gesagt, würde ich zu den Menschen gehen und hören, was sie zu sagen haben, wie Vorsitzender Mao es tat. Das Gesicht seiner Mutter war vor langem faltig geworden. Er hatte geschwiegen.

Jetzt weiß er, warum er so lange am Fenster vor dem Restaurant geblieben war: Festgehalten hatten ihn die tunnelähnlichen Nischen an der Seite des Hauptraums, in deren Eingangsbögen Fenster und Türen aus kleinen Glasscheiben zwischen rot lackierte dünne Holzleisten gesetzt sind. Es hatte ihm gefallen. Aber jetzt denkt er, ob es nicht eine Lüge ist. Eine Lüge der Funktionäre, die in den Nischen, verborgen vor den Blicken anderer, auftragen lassen. Eine Lüge für die Betriebsgruppen und reichen Touristen, die niemals ihren Weg den Hügel hoch finden würden, in dessen Sandstein Wohntunnel getrieben sind, an dessen Fuß der Laden liegt, in dem er Staub von den Figuren auf den Regalen wischt.

Er weiß, wie dieser Abhang heute aussieht und die unzähligen Abhänge der Hügelkette, die sich nach Süden zieht. Die Lehmpfade zwischen den Steinhütten und hoch zu den Höhlen vom Regen morastig geworden, der Müll, den keine öffentliche Abfuhr beseitigte wie auf den Vorzeigestraßen der Stadt im Tal, zu nassen Klumpen verklebt, stinkend wie die Fäkalien, die unter mit breiten Lücken verlegten Betonplatten rinnen. Das Wasserholen ist noch beschwerlicher, das Hinunterrutschen, das Hinaufkriechen mit den gefüllten Eimern, die an dem Holzjoch über der Schulter pendeln.

Nur durch den Eingangsbogen dringt Licht in die Wohntunnel, und die Holzleisten zwischen den teils gebrochenen Glasscheiben sind schon lange nicht mehr rot lackiert, sondern verrottet. In den Viererreihen der Tunnel waren sie eine Gemeinschaft von Familien gewesen, querverbunden durch die niedrigen Röhren zwischen den Räumen, manchmal verbunden durch die Frage, wann sie eine Wohnung im Tal bekommen würden.

Er ist froh, nicht mehr dort wohnen zu müssen. Er lebt jetzt in dem kleinen Raum hinter dem Geschäft, und es fällt Licht durch die Glasscheiben der Hausfront und durch das Fenster seines Zimmers.

Die aus Knochen geschnitzten Schmucktruhen sind gesäubert. Er könnte noch die Reihe der steinernen Löwenpaare abwischen. Seit er einmal nach Norden gefahren war und die Arbeiter in den grauen Felsen gesehen hatte, die Quader aus dem Stein schlugen, aus denen dann in den Werkstätten am Rande der Sandpiste nach Yulin andere Arbeiter ondulierte Löwenmähnen meißelten, verzierte Sockel, geöffnete Mäuler, sogar Eckzähne, die wie winzige Säulen zwischen den Kiefern stehen, dachte er, dass sie die größte Kostbarkeit, sein Reichtum in seinem Laden sind.

Es hieß, sie seien die Reittiere des Erleuchteten gewesen, der die Unwissenheit zerstören sollte. Wer weiß, heute stehen sie als Wächter vor der Bank und zum Verkauf in seinem Geschäft.

In seine Gedanken drängt sich eine Stimme in der Klangfärbung der Dörfer und die Gestalt eines alten Mannes, dem er einmal nachts an einem der langen Tische der billigen Straßenküche gegenübergesessen und von dem besonderen Reichtum in seinem Laden erzählt hatte.

Leise hatte der alte Mann gesprochen: Es soll viele gute Geister und Erleuchtete gegeben haben. Auch der Geist von Yanan war gut. Aber was kam danach, als alles möglich schien? Es wäre falsch, nur auf die Arbeiter und armen Bauern zu hören, sagte Mao. Uns meinte er damit. Und als wir Landarbeiter uns zusammenschlossen und endlich das Land nahmen, nannte er das unreif und eine Ausschweifung; wir müssten erst richtig erzogen werden. Und dann sollten wir mit den großen Landbesitzern und den Kapitalisten zusammenarbeiten, und später durften wir mit den Kadern der Partei zusammenarbeiten. Der Geist von Yanan blieb ein Geist – wie das ausgestopfte Pferd drüben im Museum, auf dem Mao einst ritt.

Er spürt wieder das Unbehagen, das er damals empfunden hatte. Die Partei hatte niemals von solchen Fehlern gesprochen. Er hatte sich nicht mehr getraut, den Mann anzusehen, seinen Hocker ein wenig weggerückt und noch gemurmelt, er möge es nicht, über den Preis der steinernen Löwen zu verhandeln.

Er lässt die Löwen. Er wird über die Straße gehen und fragen, wie das Geschäft dort drüben läuft.

Buchtipp: John Gittings: „Real China. From Cannibalism to Karaoke“ (Simon & Schuster, London 1996). Das Buch zeichnet ein Bild des aktuellen Chinas.

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