: „Nasser Beton, weich wie Butter“
Zeitgeschichte kommt auch bei den Privatsendern nicht ohne Zeitzeugen aus: Hasso Herschel leitete den Berliner Tunnelbau von 1962. Heute lebt der 65-Jährige in der Uckermark und findet: „Die Filmemacher haben das fantastisch hingekriegt“
taz: Erinnern Sie sich noch an den 17-jährigen Betonarbeiter Peter Fechter, der bei einem Fluchtversuch am 17. August 1962 auf der Ostseite der Berliner Mauer angeschossen wurde und dann elendig verblutete?
Herschel: Ja, das war genau in der Zeit, als wir gebuddelt haben. Die Fotos sind ja um die Welt gegangen. In „Der Tunnel“ ist das sehr gut umgesetzt worden. Zuerst dachte ich: ,Nee, lieber nicht.‘ Aber ich finde, die Filmmacher haben das fantastisch hingekriegt. Es war auch genau so, dass Offiziere von allen drei Einheiten kamen. Zuerst waren die Amerikaner da, aber dann kamen die Engländer dazu. Das wollten ja alle sehen. Und die haben den Fechter da liegen lassen, länger noch als im Film. Der hat 25 Minuten oder länger dort gelegen und ist verblutet. Dekorierte Offiziere, geschultes Militärpersonal – alle standen da, und keiner hat geholfen!
Im Film wurde vieles hinzuerfunden, zum Beispiel Peter Fechters Freundin Friederike „Fritzi“ Scholz, die beim Tunnelbau mithilft und ihren Freund Fechter hinter der Mauer sterben hört ...
Für uns hat das damals aber tatsächlich eine große Rolle gespielt, als diese Bilder in allen großen Zeitungen waren.
Inwiefern?
Wir waren sprachlos und weiß vor Wut. Eigentlich wollten wir losgehen und Leute erschießen, nachts drüben auf den Türmen. Wir sind auch schon losgefahren. Aber dann steckt sich der eine Zigarette an in seinem Glashaus, verbrennt sich, flucht und man denkt plötzlich: „Verdammt noch mal! Da steht genauso einer wie du aus Fleisch und Blut.“ Aber wir waren so voller Hass, dass wir uns gesagt haben: Die sind so gut ausgebildet, haben Waffen, haben Nachtlaser – immer wenn die einen niederschießen aus ihren scheinbar sicheren Türmen – dann dürfen wir das auch. Es hat keiner von uns gemacht, aber wir sind zwei- oder dreimal dort gewesen, haben uns das vorgestellt.
Wie nah ist „Der Tunnel“ denn nun dran an der wahren Geschichte von Hasso Herschel?
Im Film ist das am Ende etwas turbulent. Bei uns ist überhaupt nicht geschossen worden, theoretisch hätte es aber möglich sein können. Allerdings wurde bei einer anderen Flucht wirklich geschossen, dabei hat es sogar einen Toten gegeben.
Und der Verrat des Tunnelbaus an die Stasi durch eine Freundin Ihrer Schwester?
Uns ist so etwas nicht passiert. Aber andere Tunnelfluchten sind verraten worden, auch eine kurz nach dem ersten Tunnel. Da bin ich drüben im Osten rausgekommen, machte mit dem Schraubenzieher ein Loch, und die, die im Tunnel angefangen hatten, standen plötzlich unter Wasser. Also das mit dem Wasser ist alles richtig, nur bei uns war es mittendrin, aber im Film ist es gegen Ende.
Was haben Sie getan, als Sie merkten, dass die Stasi den Tunnel geflutet hatte?
Wir konnten nichts machen! Dieser Lehm ist hart wie Beton, aber sobald er nass wird, ist er weich wie Butter. Da können Sie pumpen und machen, was Sie wollen – zwecklos! Wir haben die Arbeit dann eine Zeit lang eingestellt und einer anderen Tunnelbauertruppe beim Graben geholfen.
Und die Geschichte, dass NBC zum Teil den Tunnelbau finanziert hat, ist wahr?
Ja, das ist wahr. Allerdings stimmt nicht, dass die Kameraleute von NBC je vorne bei uns mit im Tunnel waren. Die haben den amerikanischen Sektor, auch unterirdisch, in Wirklichkeit nie verlassen. Die beiden Italiener, die mich nach drei, vier Monaten Tunnelbau ansprachen und zu mir sagten „NBC kann das verfilmen“, kommen in dem Film überhaupt nicht vor.
Gab es für Sie und Ihre Freunde überhaupt ein Leben außerhalb des Tunnels?
Nein, zu dieser Zeit nicht. Wir haben damals in drei Schichten gearbeitet, und wenn man seine Schicht zu Ende hatte, ist man schon noch irgendwo trinken gegangen.
Wann kehrte Ihr Alltag wieder ein?
Von der NBC-Produktion bekam ich fünfzehntausend Mark, das war damals so viel wie heute fünfzigtausend. Ich hatte das Geld, die Erfahrung, und dann kamen die Leute an und sagten: ,Na prima, ich bin hier, aber mein Bruder ist noch drüben.‘ Und da fing ich vierzehn Tage später an, den nächsten Tunnel zu graben. Und der hat nur knapp drei Monate gedauert – sieben Meter tief statt fünf und 157 Meter lang. Insgesamt waren es drei Tunnel, aber nur einer hat richtig geklappt, nämlich dieser in „Der Tunnel“.
INTERVIEW:
STEPHAN-ALEXANDER WEICHERT
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