„Insignien seiner Macht und Männlichkeit“

Abschied von Bill Clinton oder: Monicas Geschenk und die Folgen. Ein Gespräch von Alexander Kluge mit Ulrike Sprenger über die Flut der Schlipse im Weißen Haus und wie sie als Zeichenprozess gedeutet werden kann. Claude Lévi-Strauss wäre Washington wie ein Indianerdorf in action vorgekommen

Mit Ulrike Sprenger hat sich Alexander Kluge im Rahmen seiner Fernsehsendung „10 vor 11“ unterhalten. Der folgende Text stellt eine genaue Wiedergabe dieses Interviews dar, in der alle Eigenheiten der mündlichen Rede erhalten sind. Wir springen mitten hinein in das Gespräch. Der Kontext bezieht sich auf die Anhörungen Clintons, die der Chefankläger Kenneth Starr im Rahmen des Impeachment-Verfahrens gegen Clinton angestrengt hat. Alexander Kluge: Wie geht ein Puritaner wie Starr, der Ankläger, mit dem Vokabular um, mit dem er hier hantiert? Wie geht er mit der Szene um?

Ulrike Sprenger: Das ist insofern sehr interessant, als man im Prozess gemerkt hat, dass Starr auch einer der großen Wahrheitssucher ist, er ist jemand, der – wie eben im 19. Jahrhundert üblich – versucht, mit Worten die Wahrheit zu finden. Also das hat ja schon Kleist inszeniert im „Zerbrochenen Krug“, eine Gerichtsverhandlung: Wie finde ich mit Fragen die Wahrheit? Wie kann ich überhaupt mit Fragen jemanden dazu bringen, mir eine Szene so zu schildern, dass ich dann weiß, was wirklich stattgefunden hat? Und daran scheitert Starr grandios, und zwar deswegen, weil er sich nicht der Vieldeutigkeit der Zeichen bewusst ist und auch mit dieser Vieldeutigkeit nicht umgehen kann. Er sucht immer die Wahrheit hinter den Worten. Und es gibt eine Szene, wo das sehr schön deutlich geworden ist, wo er sozusagen wieder mit einem Indiz und mit einer Frage versucht, Clinton der Untreue zu überführen: der Untreue dem Volk gegenüber, der Untreue Monica gegenüber, der generellen Untreue, der Untreue dem Wort gegenüber, das ist ja immer das, was Kenneth Starr anklagt.

Das ist für ihn im Grunde „falsch reden“.

Falsch reden, schräg reden, Ausreden, untreu sein, nicht das tun, was man sagt, und solche Dinge. Dass Sprache und Realität in einem sehr prekären Verhältnis zueinander stehen bzw. in der Politik einander als Gegensätze hervorbringen, ist ihm nicht klar. Also dass Sprache im Grunde Politik hervorbringt. Und es gibt eine Szene in der Anhörung durch die Grand Jury, wo ein Foto als Beweismaterial vorgezeigt wird. Und Clinton bekommt das Foto zu sehen, und Starr behauptet, auf diesem Foto sei ein enger Mitarbeiter Clintons im Weißen Haus zu sehen, der eine Krawatte trage, die Monica Lewinsky ursprünglich ihm, Clinton, zu Weihnachten geschenkt habe. Daraufhin ist der Präsident vollkommen verwirrt und fragt: „Is that so?“ Und Starr sagt, noch weiter: „Bitte, schauen Sie sich das Foto genau an, ist das die Krawatte, die Monica Lewinsky Ihnen zu Weihnachten geschenkt hat?“ Man fragt sich jetzt, was will Starr damit, das scheint eine beiläufige Szene, aber es ist ja offenbar so wichtig, dass man ein Beweismittel dafür aufbringt. Und er will ihm natürlich hier die Untreue nachweisen, das heißt, ein Geschenk im Verständnis von Starr ist ein Pfand, ein Treuepfand. Und er möchte, dass man das nicht weiterschenkt. Man beleidigt mit dem Weiterschenken sowohl die Schenkende als auch den Beschenkten.

Er sucht einen Zugang zu der Lewinsky, um sie sozusagen gegen Clinton in Stellung zu bringen, indem er sagt, dieser Präsident hat einen Wert, ein persönliches Geschenk von Frau Lewinsky einem Mitarbeiter weitergegeben, so als ob man eine Geliebte an seinen Diener weitergibt?

Genau. Und da ist zweierlei, also die Unterstellung der Untreue, der Veruntreuung des Unterpfandes, des Geschenkes als Pfand der Treue und natürlich die Anspielung auf die sexuelle Promiskuität. Ein Mann, der Krawatten verschenkt, also das Phallussymbol schlechthin, was ihm von einer liebenden Frau verliehen worden ist, kann nicht gut sein, der muss auch sexuell promisk sein. Und die Szene wendet sich dann im Folgenden völlig gegen Starr, weil eben klar wird, dass er überhaupt nicht auf der Höhe der Macht ist. Das heißt, die Krawatte wandelt sich dann in der Antwort in ein ganz verändertes Symbol. Es geht nämlich so weiter: Clinton ist völlig irritiert und sagt: „Is that so?“ – er erkennt die Krawatte nicht wieder und fragt, ob er einmal ein bisschen ausholen dürfe. Und dann schildert er, was im Rahmen des ganzen Prozesses plötzlich grotesk wird, weil der Zuschauer vor seinem inneren Auge Ströme von Krawatten durch das Weiße Haus ziehen sieht – er schildert nämlich, wie das mit den Krawatten so ist im Weißen Haus. Er bekomme täglich ungefähr 30 Krawatten geschenkt, von verschiedenen Angestellten, Firmen, er habe Schränke voll mit Krawatten. Von diesen Krawatten trage er die besonders schönen vielleicht einmal, zirka 70 Prozent schenke er sofort weiter. Die, die er dann einmal getragen hat, schenke er an besonders ehrenvolle und enge Mitarbeiter. Er könne sich wirklich nicht erinnern. Es könne sein, das Monica Lewinsky ihm diese Krawatte geschenkt habe, es könne auch sein, dass er sie diesem Mitarbeiter gegeben habe und dass dieser Mitarbeiter sie zufällig an jenem Tag im Prozess getragen hat. Das war nämlich noch ein weiterer Vorwurf, warum dieser Mitarbeiter sie sozusagen während des Prozesses getragen hat ...

Es könnte auch ein verschwörerisches Zeichen gewesen sein an Monica Lewinsky. Ich hatte immer gedacht, dass Clinton selber diese Krawatte getragen habe.

Nein, nein, das war ein enger Mitarbeiter.

Aber dies könnte immerhin ein Zeichen gewesen sein: Sei mir gewogen, sei mir gut, und darauf wollte Starr möglicherweise ebenfalls hinaus.

Darauf wollte er möglicherweise ebenfalls hinaus, er wollte auf jeden Fall die Krawatte als Treuepfand, als Verpflichtung sehen, die sich zwischen Monica und dem Präsidenten etabliert hat.

Immer von dem Gesichtspunkt, das macht man nicht in Boston.

Das macht man nicht in Boston, genau. Und das macht man nicht, weil es ein Geschenk ist. Und Clinton gibt mit der Schilderung dieses Krawattenstroms durch das Weiße Haus dieser Krawatte als Symbol plötzlich eine völlig andere Wendung, denn sie wird jetzt zum Insignium seiner überströmenden Potenz – er hat so viele Krawatten, dass er überhaupt nicht mehr weiß, wohin er damit soll.

Jede Praktikantin würde irgendwie den Gedanken mindestens prüfen: Wenn er mir Annäherungen macht und ich sage „Nein“, ist das immerhin eine interessante Szene. Wenn ich aber „Ja“ sage, ist es ein interessanter Roman.

Ja. Und er kann einfach verschwenderisch mit den Insignien seiner Macht und seiner Männlichkeit umgehen. Das heißt, es entsteht ein Clinton, den gerade Starr nicht wollte, und Starr erscheint als der Knicker, als der Geizige, als derjenige, der nicht versteht, der seine Krawatten zählt und der jedes Geschenk als Verpflichtung zu einem Gegengeschenk empfindet. Während Clinton in dieser verschwenderischen Fülle natürlich auch ein ganz anderes Verständnis von Geschenken zeigt, das ein sehr indianisches Verständnis ist, also der Potlatsch, das Geschenk als Verschwendung. Wenn ich etwas schenke, dann muss es etwas sein, wofür ich kein Gegengeschenk erwarte und was ich verschwende, was mir selbst nichts nützt.

Und dies gibt mir Macht?

Und das gibt mir Macht, und das zeigt gleichzeitig, dass ich Macht über die Zeichen habe. Da entsteht eben wieder dieser Umschwung in dem Prozess, dass eben Starr der Krawattenzähler ist und Clinton derjenige, der den Kreislauf von Machtsymbolen im Weißen Haus beherrscht. Er ist wahrlich der Präsident, der eben die ihm verliehenen Insignien weitergeben kann, und das wird nicht zum Zeichen der Untreue, sondern das wird zum Zeichen der Machtfülle und Herrschaft. Potlatsch.

Das ist eine indianische Sitte, ein Ritual, das die Treue des Indianerstamms garantiert? Herrschaft symbolisiert nur der, der den Potlatsch ausrüsten kann? Wer großzügig, verschwenderisch sein kann, der kann herrschen?

Es richtet sich vor allem gegen Ökonomie. Das ist ja genau das, was Starr möchte. Das ist ja auch eine Ökonomie der Gefühle, die sich an dieser Krawatte aufhängt. Ich schenke dir eine Krawatte, du schenkst mir deine Treue.

Du gibst mir einen Finger, ich gebe dir die ganze Hand.

Und das ist eben genau nicht das Verständnis des Potlatsch. Der Potlatsch ist ein gemeinsames Verschwendungsritual, das zum Teil ganze Stämme ruiniert hat. Also das heißt, man kann im Potlatsch so viel geben, dass man sich völlig verausgabt und nichts mehr hat hinterher. Und vor allem gehören zum Potlatsch auch Rituale, die deutlich machen, dass dabei nicht nur ökonomisch etwas verschwendet wird, sondern auch geistig und seelisch, also vom Gefühl her. Die Schamanen zum Beispiel schließen sich dann in Hütten ein und malen Bilder aus Sand, was eine ungeheuer mühsame Angelegenheit ist. Da werden aus kleinen Röhrchen ganz komplizierte Gemälde und Muster aus Sand angefertigt, und in einem Endritual wird das kollektiv zertrampelt. Der hat also Tage und Wochen dazu gebraucht, um dieses Bild zu erstellen.

Das ist das Gegenteil von zweckmäßig, es ist das Gegenteil von ökonomisch, das Gegenteil von geizig, es ist generös und herrschaftsbegründend.

Genau. Und das ist es genau, was Clinton dann an der Macht hält, dass er eben diese Zeichen von Macht und Fülle beherrscht.

Und das sehen 70 Prozent der amerikanischen Wähler, die in Umfragen immer wieder dieses Potlatsch bestätigen. Potlatsch ist ja ein Forschungsgegenstand von Marcel Mauss, dem Begründer des Strukturalismus in Frankreich.

Ja, und der überträgt das auf die Literatur. Also er sagt: Literatur ist ein Verschwendungsritual, weil sie letztlich nicht ökonomisch zweckgebunden ist und weil sie einen Überschuss an Emotionen freisetzt, einen Überschuss an Sprache vor allem. Im Grunde ist dann eben auch der Umgang von Clinton mit Krawatten poetisch, weil sozusagen der Schriftsteller, der Dichter den sprachlichen Überschuss verarbeitet. Das Poetische ist ja gerade das, was in seiner Bedeutung nicht genau festzulegen ist auf eine bestimmte zweckdienliche Kommunikation.

Und wird darin von Wissenschaft unterschieden?

Weil ich damit nicht eine bestimmte Mitteilung mache, die dann lediglich als Information verarbeitet wird und zu einer Handlung führt oder eben der allgemeinen Kommunikation dient. Und die These von Mauss ist, dass eben genau dieses Verschwenderische an der dichterischen Sprache wiederum mit dem Potlatsch vergleichbar ist. Und eben das ist offensichtlich geworden im Prozess um Clinton: dass es da nicht um Moral geht, sondern dass es einfach immer um den Umgang mit Zeichen geht.

Marcel Mauss hat die Indianer und den Potlatsch in Nordamerika an der Pazifikküste untersucht. Lévi-Strauss hat fast ausschließlich Indianerstämme im Urwald Brasiliens untersucht. Wenn Lévi-Strauss, der ja lebt, das Lewinsky-Interview, den Clinton-Prozess beobachtet hätte – der hätte sich totgelacht?

Ja – er hätte sicher Anmerkungen geschrieben und vor allem die Bedeutungen erschließen können, die genau nicht in dieser Situation des Frage- und Antwortspiels aufgehen.

Siebenhundert Seiten hätte er geschrieben?

Ja, das „Wilde Denken“. Also er hätte das herausgelöst, was darin tatsächlich die Funktion für unsere Gesellschaft ist und wovon sie sich in dem Clinton-Lewinsky-Prozess befreit.

Und das wäre ihm erschienen wie ein Indianerdorf in action, mit den Rollen, die dort auch sind, nur dass das jetzt über Massenmedien ungeheuer vervielfältigt wird. Das wären nicht hundert Senatoren, sondern es wäre nur je eine Person: Clinton und das Weiße Haus eine Person und Frau Lewinksy eine Person.

Ja, und dass sich darüber natürlich auch ein Stamm neu ordnet. Also neue Vorstellungen von Macht, neue Vorstellungen von Geschenken, neues Bewusstsein in der übrigen Bevölkerung.

Nachdruck aus „Facts & Fakes – Fernsehnachschriften“, Band 1. Verlag Vorwerk 8, Berlin 2000, 80 Seiten, 24,80 DM. Mit freundlicher Genehmigung von Alexander Kluge und dem Verlag Vorwerk 8