Leser zur Reform der Betriebsverfassung
: Anarchie im Arbeitsalltag

betr.: „Kampfreden um Betriebsrat“, „Kostenargument überzeugt mich nicht“ (Interview Kerstin Müller), taz vom 19. 1. 01

„Zusätzlich schlug er (Wirtschaftsminister Müller) vor, ein Quorum einzuführen, nach dem die Betriebsratswahl nur gültig sei, wenn sich mindestens 30 oder 35 Prozent der Beschäftigten beteiligten.“

Wie wenig Ahnung haben Gesetzgeber doch von der Realität im Arbeitsalltag! Hier herrscht Anarchie (z.B. Überschreitung des Zehn-Stunden-Limits bei der Arbeitszeit in deutschen Betrieben), weil Arbeitnehmer oft genug nicht die Möglichkeit haben, ohne Nachteil für sie die Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen einzufordern. „Pragmatismus“ nennt man so was heute. Mit dieser Anarchie als Instrument haben gerade Arbeitgeber in kleinen Betrieben durchaus effektive Mittel, so „demotivierend“ auf ihre Angestellten zu wirken, dass mit Hilfe des Quorums ein Betriebsrat gleich ganz verhindert werden kann. Oder könnte es sein, dass Müller absichtlich eine Gesetzgebung andenkt, die in der Theorie hübsch aussieht, aber in der Praxis nicht umgesetzt werden kann? So was soll in der Politik ja gelegentlich vorkommen. Herzliches Dankeschön an Rot-Grün.

Frau Wolf kritisiert eher, dass es zu teuer wird, wenn Betriebe ab 200 Beschäftigte einen Betriebsrat freistellen müssen. Bei 200 Angestellten wird es mindestens einen geben, der sich um die Pflege der Produktionsmittel kümmert. Welches Menschenverständnis hat, wem es Schmerzen bereitet, wenn sich nur eine weitere Vollzeitkraft um die Belange der Produzierenden selbst kümmert? GOETZ KLUGE, Tokio, Japan

Wenn Arbeitgeber – insbesondere solche der New Economy – erklären, es komme nicht auf Gesetze an, denn wo kein Kläger, da kein Richter – und im Übrigen seien Arbeitnehmer, die sich an das Arbeitzeitgesetz halten wollten, ohnehin verkehrt in der Branche, wenn Arbeitgeber Derartiges äußern, dann darf es auch kein Quorum für die Betriebsratswahl geben. Denn Betriebsräte haben gerade klein- und mittelständische Betriebe sehr nötig, weil dort, nach meiner Kenntnis, der offene Gesetzesbruch hinsichtlich des Arbeitszeitgesetzes durchaus an der Tagesordnung ist.

MICHAEL HEINEN-ANDERS, Troisdorf

[...] Natürlich hat Kerstin Müller Recht, das Betriebsverfassungsgesetz bedarf dringend der Modernisierung; die deutschen Mitbestimmungsregelungen waren in der Tat eine der wesentlichen Ursachen für sozialen Frieden und Ausgleich im Land. Das war seinerzeit ja auch einer der Hauptkritikpunkte von links, nicht ganz zu Unrecht wurde auf die „Systemstabilisierung“ des Betriebsverfassungsgesetzes verwiesen. Jetzt wäre es aber angezeigt, dass B90/DieGrünen wesentlich mehr innovative Elemente in die Novelle einbrächten – insoweit wären sie geradezu verpflichtet „draufzusatteln“.

Notwendig ist auch eine breite Diskussion über inner- und überbetriebliche Mitbestimmung. Das wäre endlich mal wieder zugleich eine Diskussion über innergesellschaftliche Strukturen. Und diese Diskussion ist geeignet, B90/Die Grünen als Partei des demokratischen Fortschritts zu profilieren, eine Position, die, seitdem sich die FDP von den „Freiburger Thesen“ Mitte der 70er-Jahre verabschiedet hat, völlig verwaist ist.

Das Land, die Wirtschaft brauchen die Fantasie und Kompetenz der Mitarbeiter, um zu menschlicheren, zugleich auch ökonomischeren Wirtschaftsweisen kommen. Das Diktat der Vorgesetzten ist überholt, gefragt sind demokratisierte Wirtschaftsprozesse. Die Hysterie der Wirtschaftsverbände wäre dann berechtigt, sind sie doch mehr und mehr die Vertreter der Salem-Absolventen und nicht rationaler = demokratischer Wirtschaftsprozesse.

ULRICH KRÜGER-LIMBERGER, Darmstadt