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Ein unerträglicher Blick auf die Kampfzone Kernfamilie

■ Neu im Kino: In „The War Zone“ erzählt Tim Roth die gnadenlos realistische Geschichte eines sexuellen Missbrauchs

„It's not to my taste“ war alles, was die soeben mit dem Bremer Filmpreis ausgezeichnete Tilda Swinton bei einem Interview vor ein paar Tagen über „The War Zone“ von Tim Roth sagen mochte. In diesem Film spielt sie eine Mutter in der Zeit direkt vor und nach der Geburt ihres dritten Kindes. Auch im echten Leben gabar sie kurz vor den Dreharbeiten vor drei Jahren ihre Zwillinge, und die Kamera zeigt sie in einigen Szenen so kreatürlich, erschöpft und nackt, dass man verstehen könnte, warum sie so lieber nicht auf einer Leinwand gesehen werden will. Aber wahrscheinlich gehen ihre Vorbehalte doch tiefer, denn dieser Film bildet so etwas wie die Anti-these zu all den avantgardistischen, sehr artifiziellen Filme, in denen sie sonst zu sehen ist. In „The War Zone“ herrscht ein gnadenloser Realismus vor. Roth erspart seinem Publikum so gut wie gar nichts, und vor einem Zuschauer, „nach dessem Geschmack“ dieser Film wäre, müsste man sich fürchten.

Die Kamera folgt den ganzen Film über dem 15-jährigen Tom dabei, wie er ein furchtbares Geheimnis seiner Familie entdeckt, es zu verarbeiten versucht und sich heillos dabei überfordert, es zu lösen. Wir sehen, was er sieht – mit einer Ausnahme ganz zu Beginn des Films. In dieser Szene kommt er im Regen zu einem abgelegenen Haus, in dem er mit Vater, schwangerer Mutter und seiner 18-jährigen Schwester Jessie lebt. Er schaut zufällig von draußen in ein Fenster und ist entsetzt über das, was er da zu sehen bekommt. Weil wir sonst fast wie mit einer subjektiven Kamera ständig seinem Blick folgen, ist dies ein offensichtlicher Stilbruch, der sich aber dramaturgisch auszahlt, weil wir auf diese Weise lange darüber im Unklaren gehalten werden, was in dieser Familie wirklich passiert: Projiziert der picklige und jugendlich rebellische Pubertierende da seine sexuellen Wünsche und Ängste auf Vater und Schwester, oder gibt es tatsächlich ein inzestuöses Verhältnis zwischen den beiden?

In dieser Schwebe hält der Film sein Publikum lange, und man wünscht sich immer mehr, dass Tom sich etwas zusammenfantasiert. Aber dies ist einer von den Filmen, in denen Alles mit erbarmungsloser Konsequenz zu Ende gedacht und erzählt wird. Dabei scheinen alle in der Familie auf den ersten Blick liebevoll miteinander umzugehen. Ray Winstone spielt den Vater alles andere als dämonisch: Er ist sympathisch, weder gewalttätig noch sozial benachteiligt, und gerade dadurch wirkt der Bruch in der Geschichte und der Familie schließlich nur noch verheerender.

Der Schauspieler Tim Roth („Reservoir Dogs“, „Vincent & Theo“) hätte sich für sein Regiedebüt kaum einen schwierigeren und unglamouröseren Stoff aussuchen können. „The War Zone“ basiert zwar auf einem in Großbritannien berühmt-berüchtigen Roman von Alexander Stuart mit dem gleichen Titel, aber dieser Film wirkt nicht wie eine Literaturadaption. Statt dessen ist jedes Detail so realistisch und authentisch, dass man sich als Zuschauer eben nicht so leicht auf die tröstliche Gewissheit zurückfallen lassen kann, dies wäre nur Fiktion.

Die Mechanismen der Verdrängung und Manipulation innerhalb der Familie wirken genau beobachtet statt erfunden. Dem Roman- und Drehbuchautor Stuart und Roth ist es gelungen, den Film so wahrhaftig wirken zu lassen, dass man es machmal kaum auszuhalten vermag. Das ist wohlgemerkt nie spekulativ, sondern mit großer Ernsthaftigkeit, Empathie und Gespür für die Wirkung von Metaphern inszeniert. Die ambivalente und verstörende Schlussszene spielt in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg an der Steilküste von Devon. Dieser Bunker ist ein stimmiges Sinnbild für die Familie als Kriegsschauplatz. hip

Als Erstaufführung im Kino 46 heute und Fr um 22.30 Uhr in der Originalfassung ohne Untertitel und von So bis Di um 20.30 Uhr in der deutschen Synchronfassung.

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