Fernsehen, dehnbar seriös

Sat.1 dreht ab heute mit dem „Girlscamp“ (20.15 Uhr) weiter an der Reality-Schraube. Es geht es um Luxus, nackte Haut und noch mehr Authentizität. Hinter dem Format steckt die TV-Produktionsfirma MME, die sich als echte Wundertüte entpuppt

von STEFFEN GRIMBERG

Slatko geht zum Grand Prix, „Big Brother“ in die dritte Runde, das „Inselduell“ ist längst versendet, „Expedition Robinson“ versandet, „to club“ startet am Sonntag, „Taxi Orange“ muss noch produziert werden, „House of Love“ kommt nächste Woche – und „Girlscamp“ läuft ab heute. Reality-Formate boomen, werden zeitgleich schon wieder totgesagt – und haben das Fernsehen seit dem vergangenen Jahr ziemlich auf den Kopf gestellt. Das private, wohlgemerkt.

Die Halbwertszeiten dieser um ein bis drei Grundmotive (Menschen! Rauswählen! Sex!) kreisenden Programme werden immer kürzer. Macht nichts, sagt Michael Voppe: „Fernsehen lebt von der Hand in den Mund. Vielleicht war das ja nie anders, das schien nur so.“ Voppe ist Executive Producer von „Girlscamp“. –„Reality und Dokumentation“ heißt sein Geschäftsbereich bei der Hamburger Produktionsfirma Me, Myself & Eye (MME), die die etwas andere Container-Show für Sat.1 produziert. Den gegenwärtigen Abgesang auf das Genre hält er für verfrüht, schließlich reagiere das Fernsehen endlich auf gesellschaftliche Entwicklungen – „und die sind immer schnell“.

Authentizität heißt das Gebot der Stunde: „Du willst keine Freaks mehr sehen“, sagt Voppe, ehemals Redaktionsleiter von „Schreinemakers live“ und Chef vom Dienst bei „stern-tv“. Auch der „Wunsch nach Seriosität“ sei bei den Zuschauern ausgeprägter geworden. Ausgeprägter, aber auch breiter. Neben klassische öffentlich-rechtliche Schwergewichte wie Gerd Ruges Reisereportagen (ARD) tritt die Schönen-und-Reichen-Dokuserie „Mondän“ (ZDF), auch die Nachrichtensendungen der Privaten haben Konjunktur. „RTL aktuell“ schlägt vor allem bei den jüngeren Zuschauern durchaus schon mal die „Tagesschau“.

Seriösität ist dabei ein dehnbarer Begriff: Für Voppe gehören auch Dokusoaps dazu, und das von manchen schon totgesagte Format „lebt besser denn je“.

In über 40 Jahren Fernsehen haben sich die Zuschauer dem Medium angenähert – und umgekehrt: „Die Zeiten in denen trennscharf zwischen ‚U‘ und ‚E‘ unterschieden wurde, sind vorbei“, sagt der „Girlscamp“-Producer. Das Fernsehen sei wesentlichen zuschauerfreundlicher geworden. Und je emotionaler, je näher am individuellen Schicksal der Menschen Programm gemacht werde, umso erfolgreicher könne es sein.

Wo andere den Reality-Boom schon im Abwind sehen, ist sich der MME-Mann sicher: „Reality is back.“ Verlierer – und in diesem Punkt liegt er in jedem Fall richtig – seien vielmehr die Produzenten klassisch-fiktionaler TV-Stoffe, die jetzt unter den optimierten Wertschöpfungsketten der Senderfamilien zu leiden haben.

Wohin die mit „Big Brother“ begonnene Reise geht, bleibt allerdings unklar: An den programmierten Erfolg streng normierter TV-Formate glaubt Voppe nicht: „Die Reißbrettzeiten sind vorbei“, und es sei genauso falsch zu sagen, da laufe etwas nicht gut. „Denn ob etwas im Fernsehen funktioniert oder nicht, hat immer mit der Qualität des einzelnen Programms zu tun, wie gut die Leute sind, die daran arbeiten – und nicht mit irgendeiner Großwetterlage.“

MME kann sich eine gewisse Lockerheit im Umgang mit den alles bestimmenden Großwetterlagen im TV-Geschäft leisten. Anders als die eher monoformatig ausgerichte Konkurrenz von Endemol („Big Brother“-Derivate) bis Brainpool (Comedy) bedient die 1991 gegründete Firma ganz unterschiedliche Interessen – und Ansprüche.

„Bravo TV“ und seine Ableger standen am Anfang der MME-Gechichte, schließlich ist der Bravo-Hausverlag Heinrich Bauer KG mit über 40 Prozent der Anteile Hauptgesellschafter von MME. Diese Teeny-Formate sind genauso RTL-2-gemäße MME-Erfindungen wie die mittlerweile untergegangene Erotikshow „peep!“, mit der Verona Feldbusch einsame Höhepunkte feierte. Doch daneben steht die mit zwei Grimme-Preisen ausgezeichnete und zum Deutschen Fernsehpreis nominierte Dokuserie „Pop 2000“, die im vergangenen Jahr durch alle dritten ARD-Programme gereicht wurde. Musik – genauer: Pop – ist generell ein Hauptbestandteil der Fernsehware made by MME: Hinter den meisten Konzepten steht MME-Vorstand Jörg A. Hoppe. Der ehemalige Extrabreit-Manager war schon in Frühzeit des Privatfernsehens Musikchef beim längst nicht mehr existierenden Sender Tele 5 und 1993 Mitbegründer des Musikkanals Viva.

Für RTL produziert die nicht an der Börse notierte AG die deutsche Version der BBC-Kultsendung „Top of the Pops“, für die kleine Schwester RTL 2 die Teeniepopper-Tournee „The Dome“, für Vox den eher seichten Musikquiz „Hast Du Töne“. Und mit VH-1 hat man sogar einen eigenen Sender: Der Spartenkanal für den gesetzteren Musikfreund um die 30 gehört zwar beteiligungstechnisch zu MTV, die komplette Programmabwicklung macht aber MME.

Zu den Kunden gehören so fast alle Sender, das minimiert die Abhängigkeit von einzelnen Abnehmern und schützt das Unternehmen vor allzu drastischen Begehrlichkeiten der Senderkonzerne. Der Konkurrenz bläst der Wind derzeit schon etwas schärfer ins Gesicht, wie die Abbestellungen diverser Brainpool-Formate („Voll witzig!“, „Die Ingo Appelt Show“) durch die Kirch-Gruppe zeigt.

Vor zwei Jahren traute sich MME zudem erstmals aufs weite Feld der Fiction-Produktion und dann noch gleich ins Kino: Da fungiert MME als Koproduzent der Müncherner Filmproduktionsfirma Helkon Media, mit der sich MME-Mitgesellschafter Marcus Rosenmüller gleich noch den Traum vom Regiedebüt auf der ganz großen Leinwand leisten konnte: „Der tote Taucher im Wald“ war allerdings ein Totalflop mit Prädikat „Besonders wertvoll“, immerhin gab’s für den angeblichen „Pop-Krimi“ hinterher zum Trost noch den Deutschen Kamerapreis. In diesem Jahr steht nun „Nick Knatterton“ in den Startlöchern, denn MME besitzt seit 1999 die Exklusivrechte am Comic-Knitterdetektiv. Auch noch in die Trickfilmbranche einzusteigen, war den Hamburgern aber doch wohl zu viel: Sie setzen auf eine „Realverfilmung“ des „Action-Fantasy-Comedy-Spektakels“.

Und dann ist da noch der Reality-Bereich, den die MME-Tochter Eyeland beackert. Hauptabnehmer derzeit: die Kirch-Familie um Sat.1 und Pro 7. Für Sat.1 produzierte MME schon im vergangenen Sommer das „Inselduell“. Und für das „Girlscamp“ zieht es die MME-Tochtermen Eyeland wieder in den sonnigen Süden: Der laut Programmpromotion mehr als luxeriöse Bungalow steht auf der Miniatur-Kanareninsel El Hierro.

„Es ist eben ein Unterschied, ob in einem Schlichtcontainer Back to Basics geprobt wird, oder ob wir eine Ausstattung wie in einem First-Class-Resort bieten“, sagt Producer Voppe. Für ihn vermittelt „Girlscamp“ deshalb auch eine corporate identity wie „Drei Engel für Charlie“. Und natürlich wird auf nackte Haut gesetzt, wird „Sex stattfinden“ – weshalb die halbstündigen Tageszusammenfassungen auch erst nach Mitternacht programmiert sind.

Langfristig mag überraschenderweise aber selbst der Producer der bei aller Luxusdekoration eher billigen TV-Weisheit „Sex sells“ keine allzu großen Höhenflüge mehr einräumen: „Sex verschwindet nach und nach“, prophezeit Voppe. Falls das allerdings schon während der acht Wochen passieren sollte, in denen sich die Girls im Camp um die Boys prügeln, dürfte es mit dem Love-out für Sat.1 und MME schwierig werden.