: Sibirisches Sternflüstern
Ein Winterurlaub bei 61 Grad minus in Oimjakon, dem kältesten Dorf der Erde
Urlaub machen bei 60 Grad minus und mehr. Das ist nicht jedermanns Sache. Doch Reinhardt Wurzel, ein fränkischer Hobbymeteorologe, hat es getan. Fünf Jahre lang dauerten die Vorbereitungen, dann konnte er aufbrechen ins kälteste Dorf der Erde, nach Oimjakon in Nordsibirien. Eine Region, in der die Kinder erst ab minus 54 Grad Celsius schulfrei bekommen und in der man die Handschuhe maximal für 60 Sekunden ausziehen darf. „Ich bin schon seit meiner Kindheit fasziniert von Winter, von Eis, von Schnee, von Kälte. Als ich erfuhr, dass in der Region Sibirien Millionen von Menschen bei Temperaturen leben, die 50, 60, ja bis zu 70 Grad unter Null liegen“, erklärt Wurzel sein kühles Fernweh, „da habe ich mir gesagt: Da musst du auch mal hin.“
Gemeinsam mit vier weiteren kälteresistenten Männern, die er über den Deutschen Wetterdienst gefunden hatte, flog er über Moskau nach Jakutsk. „Zunächst ging es mit einer Antonow-Propellermaschine und schließlich in einem Fahrzeugkonvoi quer durch die Taiga. Kein Fahrzeug fährt alleine, nur im Konvoi kann man sicherstellen, dass man eine Überlebenschance hat, wenn irgendetwas passieren sollte.“ Eine Woche lang dauerte die Anreise bis Oimjakon. Die deutschen Hobbymeteorologen waren die ersten Touristen in dem 518-Seelen-Dorf am absoluten Kältepol.
Was Reinhardt Wurzel und seine vier Begleiter überraschte, war der ausgesprochen hohe Lebensstandard der Dorfbewohner, die von Mikrowellengeräten bis hin zu modernen Stereoanlagen über jeden nur erdenkbaren Luxus verfügen. Den brauche man auch, wenn das Leben draußen regelrecht einfriert.
Es sollte bei der sorgfältig vorbereiteten Reise nicht ganz so kalt werden wie im Rekordjahr 1926, als das Quecksilber auf minus 71,2 Grad sank. Aber nach den ersten Tagen bei Temperaturen um die minus 50 Grad zog ein so genannter Antizyklon auf. „Die Kälte floss regelrecht die Hänge runter und unser Thermometer zeigte minus 61,2 Grad! Das war bei unserer Reise der absolute Kälterekord.“ Vielschichtige Kleidung war bei diesen Temperaturen angesagt. Die Deutschen benutzten keine moderne Hightec-Kleidung, sondern ähnliche Gewänder wie die Einheimischen und dazu kanadische Schlittenhundeschuhe.
Aber wie lebt man bei 50, 60 Grad unter null? „Das Dorf hat sich hervorragend mit dieser Kälte arrangiert“, berichtet der Nürnberger. Und das, obwohl die Temperaturunterschiede extrem sind. Die kurzen Sommer, die gerade einmal zwei Monate dauern, sind in Oimjakon ausgesprochen heiß. Temperaturen bis zu plus 35 Grad sind durchaus üblich. Die Menschen haben also eine jährliche Schwankung bis zu 100 Grad zu verkraften. Im Sommer arbeiten viele in den Goldbergwerken, andere leben von der Rentierzucht. Im Winter kommt jedoch das Leben fast vollkommen zum Stillstand.
Und es gibt eine Reihe von Besonderheiten. Die Motoren der Autos beispielsweise laufen von Oktober bis Ende April ununterbrochen durch. „Sonst würden die ja nicht mehr anspringen.“ Das wiederum bringt erhebliche Abgasprobleme mit sich. Es schneit regelrecht Industrieabgase. „Vor dem Supermarkt stehen dreißig Autos, alle sind abgeschlossen, kein Mensch sitzt drin, aber der Zündschlüssel steckt und der Motor läuft.“ Ähnlich sieht es vor dem Kino oder dem Theater aus.
Wurzel hat manche Szenen auf Video aufgenommen. Bei einer großen Nürnberger Speiseeisfabrik hat er vor der Abreise Kältetests in den Spezialkühlräumen bei minus 45 Grad durchgeführt. In Sibirien durften die Aufnahmegeräte nur kurz ohne Hülle eingesetzt werden. Nach den Aufnahmen könne man sie nicht ins beheizte Auto zurücklegen, da sich beim schnellen Erwärmen Kondenswassers bildet. Deshalb steckte er die Kamera in eine Mülltüte und legte sie dann ins Auto. So beschlug sie nicht.
Auf dem Video, das Wurzel vorführt, geht ein sibirischer Bauer in die Vorratskammer, um Milch zu holen. Der Bauer greift zu einem großen Eisklumpen, den er mit einem Beil bearbeitet. „Die Milch wird bei minus 50 Grad als großer Block in der Vorratskammer gelagert. Dann hackt man mit dem Beil sein Stück Milch runter, das wird dann im Kochtopf erwärmt.“ Später ist dann eine junge Frau zu sehen, die bei minus 60 Grad in einem einfachen Wollkleid rausgeht, um die tägliche Weltrekordtemperatur abzulesen. Alles reine Gewohnheitssache.
Eine Besonderheit kann man allerdings erst ab Temperaturen von minus 54, 55 Grad erleben: das sibirische Sternflüstern. „Es entsteht dadurch, dass feuchte Luft beim Ausatmen zu tausenden von Eiskristallen gefriert. Die klirren gegeneinander und machen dann dieses sibirische Sternflüstern.“ Etwa bei den gleichen Temperaturen dürfen sibirische Kinder auch mal auf Kältefrei hoffen. KLAUS WITTMANN
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