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Therapieplätze Mangelware

Diepgen gerät in seiner Funktion als Justizsenator wegen unzureichender Therapie von Sexualstraftätern in die Kritik. Justizsprecher: Parteipolitisch motivierte Angriffe

Die Warnung ist ernst gemeint: Der nächste schwerwiegende sexuelle Übergriff auf ein Kind oder eine Frau in Berlin ist nur eine Frage der Zeit, so Professor Klaus Beier. Der da warnt, ist einer der führenden deutschen Sexualmediziner, Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité. Im Spiegel erhebt er schwere Vorwürfe gegen den Regierenden Bürgermeister und Justizsenator Eberhard Diepgen (CDU). „Ich habe seit Monaten auf die Bedrohung durch Sexualstraftäter hingewiesen – sogar den Regierenden Bürgermeister persönlich –, aber geschehen ist nichts.“

Beier hatte mehrmals auf die „akute Gefährdung der Berliner Bevölkerung“ und die „unhaltbare Situation der Diagnostik und Therapie von Sexualstraftätern“ aufmerksam gemacht. Nach seiner Schätzung gibt es in Berlin etwa 500 Täter, die sich einer Behandlung unterziehen würden. Doch dafür fehle das Personal.

Die Justizverwaltung wies die Vorwürfe gestern zurück und wies darauf hin, dass die Justiz nur bei verurteilten Tätern tätig werden könne. Justizsprecher Karsten Ziegler betonte, dass die Justizverwaltung der Behandlung von Sexualstraftätern eine „hohe Bedeutung“ zumesse. Dazu führte er die beiden sozialtherapeutischen Anstalten (Sota) in der Justizvollzugsanstalt Tegel an. In der Sota 1, die seit vielen Jahren besteht, werden 160 Sexualstraftäter behandelt. Nachdem der Bundestag Ende 1997 ein „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ beschlossen hatte, wurde im November 2000 eine Sota 2 eingerichtet – ausgestattet mit gerade einmal 15 Plätzen. Vor dem Hintergrund, dass etwa 6 bis 7 Prozent der Inhaftierten Sexualstraftäter sind, räumte Ziegler ein, dass „man bemängeln kann, dass jahrzehntelang nichts passiert ist“. Weiter verwies er darauf, dass sich Tegel dem Problem stelle und die öffentliche Wahrnehmung zugenommen habe.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der angezeigten Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern gestiegen. 1996 wurden 895 Fälle registriert, 1999 waren es 1.061. Auch die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen und besonders schweren Fälle von sexuellem Missbrauch hat sich erhöht: Von 502 im Jahre 1995 auf 678 im Jahr 1999.

Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Wolfgang Wieland, warf Diepgen gestern vor, „gründlich versagt“ zu haben. „Die fundierten Hinweise von Fachleuten [. . .] stoßen bei Diepgen auf taube Ohren. Er mimt lieber den Landesvater und hat dann keine Zeit mehr, sich um die sich anhäufenden Probleme im Justizbereich zu kümmern.“ Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Klaus Uwe Benneter, sprach von einem Skandal und kündigte an, die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen des Sexualmediziners Beier in der nächsten Sitzung des Rechtsausschusses zur Sprache zu bringen. Justizsprecher Ziegler sieht die Angriffe auf Diepgen „parteipolitisch motiviert“. Nachdem es nicht gelungen sei, Diepgen als Regierenden Bürgermeister zu diskreditieren, biete jetzt die Justiz „ein interessantes Feld“.

B. BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

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