SICHERHEITSKONFERENZ HAT ENTSCHEIDENDE FRAGEN NICHT GESTELLT
: Die eingebildete Bedrohung

Die USA – heute die militärisch, politisch und wirtschaftlich mächtigste Nation seit dem Römischen Reich – fühlen sich „verletzlich“ und durch „Schurkenstaaten“ sowie Terroristen „bedroht“. Sie wollen ihre angeblich gefährdete „Sicherheit“ durch einen neuen, gigantischen Aufrüstungsschritt gewährleisten. Und die Verbündeten im ebenfalls mächtigsten Militärbündnis der Geschichte sollen sich an den finanziellen Kosten und politischen Risiken beteiligen. Doch gibt es die behauptete Bedrohung tatsächlich? Wenn ja, wie groß ist sie? Was sind die Ursachen für diese Gefahr? Und vor allem: Mit welchen politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Instrumenten ließe sich dieser Bedrohung – wenn sie denn existiert – entgegenwirken, um eine Aufrüstung zu vermeiden?

All diese grundsätzlichen Fragen wurden in der bisherigen Auseinandersetzung über das Nationale Raketenabwehrprojekt (NMD) der USA nicht aufgeworfen. Doch sie würden den Anspruch einer „sicherheitspolitischen Debatte“ erst rechtfertigen. Auch auf der Münchner Konferenz wurden diese Fragen nicht gestellt. Einer der wenigen verbliebenen deutschen Sicherheitspolitiker mit noch erkennbarem eigenständigem Denkvermögen ist der CDU-Abgeordnete Lamers. Er warf wenigstens die Frage auf, ob ein Raketenabwehrsystem denn die militärisch geeignete Antwort wäre auf die Bedrohung durch Terroristen, die atomare Sprengköpfe oder Giftgas in einer Aktentasche mit sich herumtragen.

Die Warnung vor einem neuen Rüstungswettlauf mit Russland und China ist natürlich wichtig. Aber wenn sich Schröder, Fischer und Co. sowie ihre AmtskollegInnen in den anderen europäischen Nato-Staaten weiterhin auf diese Warnung beschränken und sich der Hoffnung hingeben, Washington werde das NMD-Projekt aus technologischen und finanziellen Gründen ohnehin eines Tages aufgeben, dann werden sie die transatlantische Auseinandersetzung verlieren.

Doch möglicherweise ist Europa spätestens seit dem Kosovokrieg überhaupt nicht mehr in der Lage, die notwendigen grundsätzlichen Anfragen an das NMD-Projekt der USA zu formulieren. Denn seit Sommer 1999 hat die EU Weichenstellungen vollzogen hin zu einer eigenständig handlungsfähigen Militärmacht; damit folgt sie demselben Grundgedanken wie die USA mit dem NMD-Projekt: Auf künftige – auch von den EU-Regierungen bislang nicht klar definierte – „neue Bedrohungen“ soll mit militärischen Instrumenten reagiert werden. Die verharmlosend so genannte Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität (ESVI) und das US-Raketenabwehrprojekt wären dann nur zwei Seiten derselben Medaille. Auch bei künftigen transatlantischen Auseinandersetzungen um ESVI und NMD ginge es dann nicht um die besseren politischen Konzepte zur Prävention, Deeskalation und Lösung von Krisen und Konflikten, sowohl in Europa wie global. Sondern Streitpunkt wäre vor allem, ob die USA ihre Dominanz über Europa weiterhin mit militär(technolog)ischen Mitteln aufrechterhalten können.

Dann wäre diese 37. Münchner Konferenz zumindest für die USA tatsächlich „die wichtigste derartige Veranstaltung“ seit 1983 gewesen, wie das Washingtoner „Center for Security Policy“ – eine zu Zeiten von Präsident Reagan gegründete erzkonservative Denkfabrik – bereits letzte Woche angekündigt hatte. Damals, vor achtzehn Jahren, drehte sich die Auseinandersetzung um die Stationierung neuer amerikanischer Atomwaffen in Westeuropa. Moskau lehnte diese Stationierung seinerzeit so entschieden ab wie jetzt – scheinbar – auch das NMD-Projekt.

Präsident Putins Sicherheitsberater Iwanow machte in München so deutlich wie nie zuvor ein russischer Politiker, dass Moskau aus eigenen machtpolitischen Interessen zumindest einen Teil der amerikanischen Bedrohungswahrnehmungen und -behauptungen teilt. Zum Beispiel mit Blick auf Tschetschenien und andere Regionen des Kaukasus. Eine Tolerierung des NMD-Projekts durch Moskau oder gar begrenzte russische Kooperation, wenn die USA dafür gegenüber den russischen Menschenrechtsverstößen und Militärabenteuern in Tschetschenien und im von Moskau so definierten „nahen Ausland“ stillhalten: Wenn Europa die grundsätzlichen sicherheitspolitischen Fragen weiter verdrängt, wird es dieses schmutzige Spiel mitmachen müssen. ANDREAS ZUMACH