: Debatte über ein Pogrom
Ein Buch sorgt für Aufsehen: Im Jahr 1941 haben Polen 1.600 Juden verbrannt
WARSCHAU taz ■ Es ist ein kleines graues Büchlein mit dem harmlosen Titel „Nachbarn“, das die Polen seit einem halben Jahr nicht zur Ruhe kommen lässt. Jan Tomasz Gross, Historiker und Soziologe an der Universität von New York, beschreibt in dem Buch, das in Kürze auf Deutsch erscheinen wird, ein Pogrom in dem Städtchen Jedwabne in Nordostpolen.
Am 10. Juli 1941, drei Wochen nach dem Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion, haben hier christliche Polen ihre jüdischen Nachbarn bei lebendigem Leibe in einer Scheune verbrannt. Rund 1.600 Frauen, Kinder und Männer kamen ums Leben. Im Mai 1949 wurden zwar 21 Angeklagte in Lomza vor Gericht gestellt, zwar wurde einer der Angeklagten zum Tode verurteilt und weitere elf zu Haftstrafen zwischen 8 und 15 Jahren, doch der Prozess wurde in keiner größeren Zeitung erwähnt. Das Progrom geriet in Vergessenheit.
Auch polnische Historiker vermieden es bis Mitte der Achtzigerjahre, sich mit den schwarzen Seiten der polnischen Geschichte zu beschäftigen. Dies lag zum Teil an der Zensur, die auch Auschwitz zu einem nationalen Mahnmal des „polnischen Märtyriums“ machte, zum Teil aber auch an der Scheu, sich mit Themen zu beschäftigen, die nicht zum Bild des heldenhaft Widerstand leistenden Volks passten.
Das Buch „Nachbarn“ wirkt daher doppelt verstörend. Zum einen erfahren viele Polen zum ersten Mal, dass sich die Generation der Großeltern oder Eltern 1941 in Ostpolen an Pogromen beteiligt hatte. Zum anderen kommt diese Seite der polnischen Geschichte aus dem Ausland zurück nach Polen. Zwar hatte kurz zuvor der Warschauer Historiker Tomasz Szarota ein Buch über die Kollaboration im besetzten Europa veröffentlicht, zwar gab es im Bulletin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau einige Artikel zu polnischen Pogromen, doch diese Arbeiten erreichten nie eine breitere Öffentlichkeit. Genau das aber hatte Jan Tomasz Gross mit seinen „Nachbarn“ angestrebt.
Die Tageszeitung Rzeczpospolita schickte einen Reporter nach Jedwabne, der vor Ort überprüfen sollte, ob das Pogrom so stattgefunden hat, wie Gross es schildert. Aus den Reportagen Andrzej Kaczynskis erfuhren die Leser nicht nur, dass die Jedwabner sich daran erinnern und genau zeigen können, wo 1941 die jüdischen Bewohner ermordet wurden, sie sahen auch das Foto mit dem Gedenkstein und der falschen Aufschrift: „An dieser Stelle ereignete sich das Märtyrertum der jüdischen Bevölkerung. Die Gestapo und die hitlerische Gendarmerie verbrannten am 10. Juli 1941 1.600 Personen bei lebendigem Leib.“ Das Denkmal hatte der Verband der Kämpfer um Freiheit und Demokratie Anfang der Sechzigerjahre aufgestellt. Nicht weit entfernt steht ein zweites Denkmal, das nach der Wende 1989 aufgestellt wurde: „Der Erinnerung an rund 180 Personen gewidmet, darunter zwei Priester, die in den Jahren 1939 bis 1956 vom NKWD [dem sowjetischen Geheimdienst], den Hitleristen und dem [polnischen] Sicherheitsdienst ermordet wurden.“ Und als Unterschrift: „Die Gesellschaft“.
Jan Tomasz Gross hatte aus diesen Denkmälern geschlossen, dass für die Jedwabner „die Gesellschaft“ bis heute offensichtlich nur aus christlichen Polen besteht. Demnach – so Gross – hatte „die Gesellschaft“ die jüdischen Nachbarn in Jedwabno umgebracht. Genau daran entzündete sich nun die Diskussion.
Mitte November stieg die größte Tageszeitung Polens, die Gazeta Wyborcza, mit fünf Seiten in die Debatte ein und gab ihr eine neue Richtung. Im Mittelpunkt stand nicht mehr die reine Faktenfrage, sondern die nach Schuld und Verantwortung sowie dem Selbstbild in Geschichte und Gegenwart. Titel wie „Die Obsession der Unschuld“ oder „Es waren nicht ‚sie‘, leider“ geben die Verstörung wider, die das Buch Jan Tomasz Gross auslöste.
Dawid Warszawski, einer der bekanntesten Publizisten Polens, fragte, ob Polen die Verantwortung für das Pogrom in Jedwabne ablehnen könne, ohne zugleich die Fähigkeit zu verlieren, Verbrechen zu verzeihen, die an Polen begangen wurden. Noch ist die Diskussion nicht an ihrem Zenit angelangt, denn die Schlüsselfrage ist noch gar nicht gestellt worden: Wann nehmen die christlichen Polen die jüdischen Nachbarn wieder in die Gesellschaft auf? GABRIELE LESSER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen