: Der Kälteschock fordert ein Opfer
Seit einem Monat müssen die Menschen im asiatischen Teil Russlands selbst auf ein Minimum an Heizung und Strom verzichtet. Kremlchef Putin braucht einen Sündenbock und feuert seinen Energieminister. Wärmer wird es dadurch nicht
aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH
Der seit dreißig Jahren grimmigste Winter im russischen Fernen Osten und Südsibirien forderte gestern das erste prominente Opfer. Kremlchef Wladimir Putin schickte Energieminister Alexander Gawrin aufs Altenteil.
Seit sechs Wochen wird der asiatische Teil des Riesenreiches von Temperaturen bis zu minus 50 Grad Celsius heimgesucht. Vielerorts waren die regionalen Verwaltungen, Heiz- und Elektrizitätswerke auf den längeren Kälteeinbruch nicht vorbereitet. Auch nach einem Monat müssen viele Bürger selbst auf ein Minimum an Heizwärme und Strom verzichten.
Täglich berichten russische Medien über die katastrophalen Lebensbedingungen in der acht bis neun Zeitzonen von Moskau entfernten Region. Geplatzte Heizungsrohre, von Eiszapfen verzierte Wohn- und Badezimmer und vermummte Gestalten, die buchstäblich ihre ganze Habe am Leib tragen, füllen die Nachrichten. Kurzum, es war höchste Zeit, dass Wladimir Putin energisch reagierte. Schließlich hatte er seinen Wählern versprochen, den Zugriff des Kremls zu stärken und Verantwortung auch für Dinge fernab des Zentrums zu übernehmen. Die Entlassung des Energieministers sorgt noch nicht für warme Stuben. Auch ist nicht geklärt, inwieweit der Minister für das Desaster persönlich verantwortlich ist. Es sieht eher danach aus, als sei ihm auf die Schnelle die Rolle des Sündenbocks zugedacht worden. Die strukturellen Schwierigkeiten des Energiesektors reichen viel tiefer.
Das räumte auch Putin gestern ein: Anfang der 90er-Jahre sei die Verantwortung für die Einrichtungen der Energieversorgung in die Obhut der Regionen übergeben worden. Moskau habe den Provinzen indes keine Mittel zur Verfügung gestellt, die Infrastruktur instand zu halten oder zu erneuern: „Die Folge ist eine systematische Krise der Versorgungseinrichtungen in fast der Hälfte aller Provinzen“, schloss Putin. Die Regierung habe „nicht genügend unternommen, um der Krise Herr zu werden“.
Putin beschuldigte auch die Leitung der Vereinigten Elektrizitätswerke RAO EES, zur Verschärfung der Lage im Fernen Osten noch beigetragen zu haben. Auf der nächsten Aufsichtsratssitzung soll daher auch über eine „Straffung der Verwaltungsstrukturen“ des Strommonopolisten nachgedacht werden. Chef des Unternehmens ist der ehemalige Vorzeigereformer und Privatisierungsminister Anatoli Tschubais.
Mit einer Verwaltungsreform allein dürfte der Kreml die Lage allerdings nicht in den Griff bekommen. Die Probleme des Energiebereichs sind endlos. Angefangen mit der maroden Infrastrukur, die inzwischen seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr erneuert worden ist. Außerdem versorgen Heizkraftwerke die Wohnungen noch zentral. Der Bürger kann Bedarf nicht selbst regulieren. Und da Wohnsiedlungen meist an einem zentralen Netz hängen, über das auch Fabriken versorgt werden, sind die Bewohner auf Gedeih und Verderb von der Zahlungsmoral der Unternehmen abhängig. Bleiben die ihre Zeche schuldig, stellt das Elektrizitätswerk den Strom ab. Das trifft auch Mieter, die ihre Rechnungen bezahlt haben.
Für die Verlegung paralleler Stromleitungen fehlten in den Provinzen bisher die Gelder oder sie verschwanden in den Taschen korrupter Eliten vor Ort. So eilt dem Gouverneur von Primorje, Jewgeni Nasdratenko, der Ruf voraus, seine Provinz nach Vorbild der Cosa Nostra gelenkt zu haben. Er steht auch auf der Abschussliste des Kremls und dürfte demnächst seinen Rücktritt einreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen