Das Ende der Freilandversuche

Erstmals führt die EU das Vorsorgeprinzip bei Chemikalien ein: Künftig sollen die Stoffe auch ohne einen Verdacht auf ihre Gefährlichkeit getestet werden. Industrie warnt vor Verlust von 100.000 Jobs, Umweltschützer loben den „guten Ansatz“

von MATTHIAS URBACH

Rund 100.000 verschiedene Chemikalien sind zur Zeit im Einsatz – doch die meisten haben nie ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Erst seit 1981 müssen neu in der EU eingeführte Substanzen getestet werden – das trifft gerade mal auf 2.700 zu. „Der Mangel an Wissen über die Gesundheits- und Umweltgefährdung von den vielen Chemikalien ist ein Grund zur Beunruhigung“, heißt es im „Weißbuch Chemiekalienpolitik“, mit dem die EU-Kommission diesen Missstand beenden will. Künftig soll in der Chemie das „Vorsorgeprinzip“ gelten, heißt es dort. Dann müssen Substanzen bereits getestet werden, bevor es einen Verdacht gegen sie gibt.

Um die Bürokratie nicht zu groß werden zu lassen, setzt die Kommission Prioritäten. So soll die Industrie nur die 30.000 Chemikalien testen müssen, von denen pro Jahr mehr als eine Tonne produziert wird. Für den Großteil davon werden aber keine Tierversuche, sondern nur ein paar simplere Angaben nötig sein. Für Stoffe, die nur in Mengen von einer Tonne produziert werden, gilt eine Frist bis 2018. Schärfer sind die Auflagen für die 5.000 Stoffe, von denen jährlich mehr als 100 Tonnen in Umlauf kommen. Die müssen bis spätestens 2008 umfassend getestet werden. Wallström schätzt, dass von diesen 5.000 Stoffen vermutlich bis zu 1.500 in eine verschärftes Prüfverfahren geraten, weil sie als Krebs erregend, Erbgut schädigend oder die Fortpflanzung störend eingestuft werden. Die Industrie soll die Tests unter Anleitung der Behörden selbst durchführen. Wenn Substanzen diese Tests nicht bestehen, droht ihnen der Entzug der Zulassung. Eine Ausnahme ist möglich, wenn die Stoffe nur als Zwischenprodukt in abgeschlossenen Fabriken oder im Labor verwandt werden.

Europas Chemieindustrie ist die größte in der Welt, EU-Spitzenreiter ist Deutschland. Nicht überraschend also, dass vor allem aus Deutschland Kritik kommt. Der Verband der Chemischen Industrie (VCI) malt bereits den Teufel an die Wand: Bis zu 100.000 Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, erklärt VCI-Hauptgeschäftsführer Wilfried Sahm. Das „aufwändige Zulassungsverfahren“ sprenge „jeden vernünftigen Rahmen“. Für viele Produkte würde diese Richtlinie das Ende bedeuten.

Um dieser Kritik zu begegnen, hat die Kommission Erleichterungen bei den Genehmigungen von Neuchemikalien vorgesehen: Künftig muss ein Grunddatensatz erst ab 10 Tonnen Jahresproduktion vorgelegt werden, Ausnahmen für die Forschung sollen auf fünf Jahre verlängert werden und die Prüfanforderungen auf die jeweilige Chemikalie „maßgeschneidert“ werden, um sinnlose Standardtests zu vermeiden. Alle Auflagen gelten außerdem auch für Importe, nicht aber für den Export.

Der Umweltverband BUND begrüßt im Grundsatz das Papier als einen „guten neuen Ansatz“. Wenn die Altchemikalien weiter im jetzigen Tempo sporadisch durchgetestet würden, dauere es noch „Jahrhunderte“, bis man Bescheid wisse über die tägliche Chemiebelastung, sagt BUND-Experte Thomas Lenius.

Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass oft erst nach Jahren der Anwendung klar wird, wie schädlich ein Stoff ist. So etwa bei TBT, das in Schiffsanstrichen verwandt wird und nun bei Tieren Fortpflanzungsstörungen auslöst. Die Schäden sind umso problematischer, je stärker sich die Substanzen in der Umwelt anreichern.

Kritisch sieht der BUND allerdings den angepeilten Zeitrahmen bis 2018. Würde man die Chemiekalien gruppenweise bewerten, so Lenius, könne man viel schneller vorankommen – und die Tierversuche minimieren.