: Berlin, das ist ein Unort
Ab heute schaut die Filmwelt nach Berlin. Doch auch jenseits der Berlinale boomt hier das Filmgeschäft: Immer häufiger wird in der Hauptstadt gedreht. Hintergrund bilden dabei nicht mehr die bröckeligen Gründerzeitfassaden, sondern Plattenbauten und Betonlandschaften
von KIRSTEN KÜPPERS
Vertraut man modernen Filmemachern, dann ist Berlin eine karge Hochhaussiedlung weit draußen im Osten. Eine kühle, fast futuristische Gegend. Auf dem Lieferantenparkplatz der tristen Supermarktfiliale liegt die Leiche eines Jugendlichen, wie im aktuellen Spielfilm „alaska.de“ von Esther Gronenborn. Depressive Charaktere flüchten in die anonyme Trabantenstadt, etwa bei Oskar Röhlers „Die Unberührbare“. Und bisweilen holt sich eine namenlose Frau in ihrer Plattenbauwohnung eine kalte Unterhose aus dem Kühlschrank, wie in der Coca-Cola-Werbung des letzten Sommers. Auch bei den heute Abend beginnenden 51. Berliner Filmfestspielen zeigt sich die Hauptstadt in Filmen von Regisseuren wie Thomas Arslan, Angela Schanelec und Otto Alexander Jahrreis als ein eher ungemütlicher Ort. Der Bahnhof Zoo tritt lediglich als zugiger ICE-Bahnsteig in Erscheinung. Die Autos der Protagonisten halten irgendwo an der Stadtautobahn. Verkehrslärm genügt, um die Kulisse der Stadt zu beschreiben.
Dabei ist es noch gar nicht lange her, dass Berlin ganz anders abgedreht wurde. Nämlich bildreich als romantisch-kaputter Mikrokosmos, in dem es nicht nur deswegen warm war, weil die alten Industriehallen für die Fernsehserie „Helicops“ brannten. In „Das Leben ist eine Baustelle“ retten sich Christiane Paul und Jürgen Vogel noch verliebt in die charmant-verfallene Altbauwohnungswelt des Prenzlauer Berg. Lola rannte aufgeregt an markanten Gründerzeitfassaden entlang. Und die Schauplätze von „Nachtgestalten“ waren wiederzuerkennende Wegweiser in der Stadt. Am bröckeligen Stuck Berlins hat sich das Publikum indes schnell satt gesehen, meint Claudia Menge, die für die Agentur „Location Networx“ die Stadt professionell nach Drehorten für die Filmbranche absucht. Die neuen Aufträge lauten: „Bloß keine heruntergekommenen Prenzlauer-Berg-Etagen mehr!“ Vielleicht weil erfahren wurde, dass sich das marode Glück im richtigen Leben nur mit Frieren an der Ofenheizung oder hohen Sanierungskosten verbinden ließ.
Inzwischen werden Gefühle vor der Kamera jedenfalls lieber in der nüchtern reduzierten Ästhetik der Moderne ausgelebt. Hannelore Elsner taumelt als „Unberührbare“ durch einen schnörkellosen Bungalow des Hansaviertels. Ben Becker sitzt in „Frau 2 sucht Happy End“ im menschenleeren Foyer des Kino „International“. Bevorzugter Hintergrund ist jetzt die Architektur der 50er- bis 70er-Jahre: die Kongresshalle am Alexanderplatz, das Haus der Kulturen der Welt, das Café Moskau, die ehemalige Rundfunkanstalt der DDR in der Nalepastraße oder die Deutsche Oper. „Wir suchen nach den Versatzstücken des Wirtschaftswunders. Sichtbetonbauten, moderne Einfamilienhäuser und Bauhaus-Gebäude“, erklärt Claudia Menge. Die plötzliche Leidenschaft für zurückgenommen schlichte Kulissen der Moderne begründet Birgit Kniep, Szenenbildnerin von „Die Unberührbare“ und anderen Produktionen dieses neuen Stils, mit einer ungewohnten „Sehnsucht nach Realität“: „Dass es diesen perfekten Frühstückstisch wie bei Rama nirgendwo gibt, wissen inzwischen alle.“ Deswegen suchen Regisseure derzeit nach unglamourös Alltäglichem: „Möglichst ungestylte Motive, normale Darsteller, undekoriertes Leben.“ Längst müsse die Kamera nicht mehr an der Siegessäule vorbeifahren, um zu signalisieren: Hier ist Berlin. Die Geschichten seien heute näher an den Figuren, dafür unabhängiger von bestimmten touristischen Szenerien geschrieben. Auch bei Thomas Arslans „Mein schöner Tag“ wohnt die Hauptdarstellerin in einer Neubauwohnung in der Kochstraße. Läuft sie durch Berlin, bleibt die Kamera dicht an ihr dran, die Stadt tritt in den Hintergrund.
Für die Darstellung urbaner Gefühlswelten geben die gesichtslosen Oberflächen von Plattenbausiedlungen, Fußgängerbrücken oder Betonlandschaften nicht nur willkommen zeitlose Hintergründe ab. Als übrig gebliebene kühne Wegmarken modernen Städtbaus bieten sie auch eine ironische Ahnung von Zukunft. Besonders weil der gesellschaftliche Mainstream die Visionen dieser Zweckbauten längst für gescheitert erklärt hat. „Gerade für diese eigentlich hässlichen Unorte eignet sich Berlin hervorragend“, findet die Szenenbildnerin Birgit Kniep. Paradoxerweise ist jedoch die Begeisterung der Filmschaffenden für die Moderne zeitgleich mit deren konsequenter Ablehnung durch die Berliner Politik. Die hat jüngst das Ahornblatt an der Fischerinsel abreißen lassen. Andere Bauwerke der DDR-Moderne sollen folgen.
Freilich hat sich die Hauptstadt und ihr Umland nicht nur wegen Bildern der Architekturmoderne in jüngster Zeit als bundesweit gefragtester Drehort neben München etablieren können. Historische Motive machen Berlin immer noch besonders für internationale Produktionen interessant. Der heutige Eröffnungsfilm der Berlinale, Jean-Jacques Annauds „Stalingrad“, wurde etwa in Babelsberg gefilmt. Roman Polanski ist gerade zu Dreharbeiten hier. Und Hollywoodregisseur Wolfgang Petersen hat bereits die Realisierung des Romans „Café Berlin“ in der Hauptstadt angekündigt.
Die Popularität von Berlin als Filmschauplatz lässt sich mittlerweile auch statistisch lesen: Die Zahl der Drehtermine in der Stadt hat sich in den letzten fünf Jahren nahezu verdoppelt, meldet die Berlin Tourismus Marketing GmbH. Das Umsatzvolumen der hier gedrehten Filme beträgt nach Angaben von Wirtschaftssenator Wolfgang Branoner (CDU) jährlich rund eine Milliarde Mark. Und mit bis zu 40 Drehaufnahmen täglich – Tendenz steigend – entwickele sich der Medienstandort Berlin zu einem immer bedeutenderen Wirtschaftsfaktor. Immerhin konnte das Filmboard Berlin-Brandenburg im vergangenen Jahr über 31,4 Millionen Mark Fördermittel verfügen. Auch hier verzeichnen die Motivverwalter neben der starken Nachfrage nach geschichtsträchtigen Plätzen großen Andrang auf die Berliner Plattenbauwohnungen.
Der letzte Film, den die Szenenbildnerin Birgit Kniep ausgestattet hat, spielt allerdings nicht mehr im Ostteil der Stadt. In dem im Sommer anlaufenden Streifen „Julias Welt“ befindet sich die Wohnung der Heldin in einem Betonklotz an der Heerstraße.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen