taz-serie: kippt der osten?: DGB-Chef Dieter Scholz zu den Thierse-Thesen
Eine ehrliche Situationsanalyse ist die Voraussetzung
Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Heute: Dieter Scholz, Landesvorsitzender des DGB Berlin-Brandenburg . Bereits erschienen sind Beiträge von der Präsidentin der Universität Viadria, Gesine Schwan (27. 1.), CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky (31. 1.), der Bürgermeiseterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Bärbel Grygier, (2. 2.) und dem Landeschef der Grünen, Andreas Schulze, (5. 2.).
Gut, dass Wolfgang Thierse nicht im antiken Griechenland lebt. Dort wurde der Überbringer einer schlechten Nachricht („In Ostdeutschland steht die wirtschaftliche und soziale Lage auf der Kippe“) noch geköpft, hier in unseren Breitengraden droht entweder Beschimpfung oder schlichtweg Ignoranz.
Beides dient nicht einer illusionslosen Bestandsaufnahme: Das Wirtschaftswachstum im Osten reicht keinesfalls aus, um den Aufholprozess zu beschleunigen; die kommunale Steuerkraft beträgt lediglich ein Drittels des Westvolumens; die Haushalte verfügen im Durchschnitt über 70 Prozent des Westeinkommens, die Arbeitslosigkeit liegt doppelt so hoch. Also wahrlich kein Grund zur Schönfärberei.
Spiegelbildlich lässt sich diese katastrophale Situation auch in Berlin ablesen. Die Stadt versucht seit zehn Jahren, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, und merkt nicht, dass die Platte kahl ist. „Tafelsilber“ verscheuert (leider ist die Bewag kein „nachwachsender“ Rohstoff), Schlusslicht bei den Investitionen, Abwanderung kaufkräftiger Berliner ins Umland, Infrastruktur teilweise in miserablem Zustand. Und die Finanztöpfe sind leer, woran teilweise auch die rot-grüne Steuerreform schuld ist.
Die Schulden fressen uns auf, während der Senat beschäftigungs- und steuerwirksame Investitionen zusammenstreicht. Und gleichzeitig nährt die Landesregierung die Illusion, aus eigener Kraft ließe sich der Herkulesakt schaffen. „Du hast keine Chance, also nutze sie“ hieß früher ein Sponti-Spruch. Berlins Finanzpolitik steckt in der Sackgasse.
Doch das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Schluss mit der Lebenslüge, Berlin könne sein Schicksal aus eigener Kraft meistern: Ohne Hilfe von außen wird der Haushalt der Hauptstadt nicht zu sanieren sein. Eine bittere Wahrheit, die zum Handeln zwingt. Wir haben keine Mark im Länderfinanzausgleich zu verschenken; der Bund muss sich zur Hauptstadt und ihrer Ausstrahlungskraft bekennen und dafür auch zu zahlen bereit sein (Bundesergänzungszuweisungen); eine Infrastrukturoffensive in Ostdeutschland, einschließlich Berlins, ist vonnöten, um marode Schulen, schlechte Straßen und unterfinanzierte Hochschulen wieder auf Metropolenniveau zu bringen. Auch die Kulturszene wird nicht nur für Tempelhofer oder Pankower gepflegt. Die internationale Visitenkarte der Hauptstadt hat ihren Preis.
Ehrliches Bilanzieren nach 10 Jahren Vereinigungsprozess sowie Hinterfragen der vermeintlich alternativlosen Politstrategien sind Voraussetzungen zum „Kraftakt Hauptstadtaufschwung“. Der wird nur durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens zu erreichen sein. Neue Lösungen braucht das Land. Am notwendigen Versuch, den gordischen Knoten zu durchschlagen, werden sich die Gewerkschaften beteiligen: Voraussetzung ist allerdings eine ehrliche Situationsanalyse.
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