: Euthanasie mit Einfühlung
Die Schlächter dessen, was wir verzehren, sind unter uns. Darüber lässt J. M. Coetzee eine seiner Romanfiguren erschrecken. Unser Verhältnis zu den Tieren treibt den südafrikanischen Autor um
von MARIE LUISE KNOTT
„Zu Füßen eines alten Mannes habe ich einen Mythos in mich aufgesogen von einer Vergangenheit, in der Tier und Mensch und Herr ein gemeinsames Leben führten, so unschuldig wie die Sterne am Himmel . . .“, schreibt der Schriftsteller J. M. Coetzee in einem seiner frühen Romane, „Im Herzen des Landes“. Ein derart unschuldiges gemeinsames Leben dürfte es wohl nur dereinst im Paradies gegeben haben. Die derzeit hochaktuelle Frage, was von dieser – als ursprünglich angenommenen – Achtung übrig geblieben ist, anders gesagt: auf welchen Hund die Beziehungen zwischen Mensch und Tier gekommen sind, durchzieht die Romane des südafrikanischen Autors – zuletzt seinen Roman „Schande“, der 1999 erschien.
Kürzlich veröffentlichte der S. Fischer Verlag eine Kurzprosa des Autors: „Das Leben der Tiere“. Coetzee war eingeladen, einen Vortrag über das Verhältnis zwischen Mensch und Tier zu halten, doch anstelle einer Abhandlung verfasste er eine Parabel, die ironisch-sarkastisch daherkommt und umso eindringlicher die Verlassenheit des Menschen inszeniert.
Die Geschichte, die Coetzee in seiner Lecture erzählt, handelt von einer australischen Schriftstellerin, Mrs. Costello, die in das gepflegte Ambiente einer amerikanischen Universität zu Vorträgen über das Verhältnis des Menschen zu Tieren eingeladen wird. Die Protagonistin dieses „Spiels im Spiele“ ist eine Feministin und vehemente, gesinnungsterroristische Vorkämpferin für die Rechte von Nutz- und Schlachttieren. Erzählt wird ihr Aufenthalt mitsamt der akademischen Debatte und dem entsprechenden Dinner aus der Perspektive ihres Sohnes, mit dessen (Fleisch verzehrenden) Kindern Großmutter Costello sich weigert an einem Tisch zu essen.
Die Ausführungen der „Vegetaristin“ (wie sie sich selbst nennt) sind vor allem vom guten Willen gezeichnet. Ihre These ist klar und deutlich: Der Mensch hat den Verstand über alles gesetzt und das Tier (einst wie der Mensch eine göttliche Kreatur) zur minderen Art erkoren. Er hat Mordanstalten (Schlachthöfe) errichtet und sich an den Tieren schuldig gemacht. Das NS-Vernichtungslager Treblinka, wo die Haut von Juden zu Lampenschirmen und ihr Knochenmehl zu Dünger verarbeitet wurde, unterscheide sich recht eigentlich nicht von den Schlachthöfen, wie sie dereinst in Chicago als Fortschritt gefeiert wurden. „Ich will es deutlich sagen“, heißt es bei Mrs. Costello: „Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war, ja es noch in den Schatten stellt, weil unser System kein Ende kennt, sich selbst regeneriert, unaufhörlich Kaninchen, Ratten, Geflügel, Vieh für das Messer des Schlächters auf die Welt bringt.“
Kenntnisse über Kadaver
J. M. Coetzee , der in seinem zur gleichen Zeit verfassten Roman „Schande“ die Euthanasie an (alten, kranken, überzähligen) Hunden ins Zentrum rückte, verfügt nicht nur über eine genaue Kenntnis der Tierhaltung, Tiertötung und der Tierkadaverbeseitigung, sondern auch über eine genaue Kenntnis des Nationalsozialismus und hat folglich Mrs. Costellos Provokation mit Bedacht formuliert. Wenn sie dann auch noch sagt: „Wir verachten die Tiere, weil sie sich nicht wehren“ – denkt man unweigerlich: Wie die Juden?
Wer vor dem BSE-Zeitalter von Hühner-KZs sprach, galt als Gesinnungstäter und 150-prozentiger Vegetarist – als einer, der im Zweifelsfall wahrscheinlich nicht nur Strommasten „killt“. In jüngster Zeit stößt Coetzees „elftes Gebot: Du sollst die Schlachthöfe schließen“ (Thomas Steinfeld) auf offenere Ohren.
Coetzee, der 1940 in Kapstadt/ Südafrika geboren wurde, ging im Alter von 22 Jahren als Computerprogrammierer nach England, später als Sprachlehrer nach Amerika. 1973 erschien sein erstes Buch („Duskland“), das die Kolonialgeschichte Südafrikas mit dem Vietnamkrieg zusammenbindet. Da Coetzee keine Interviews gibt, hält man sich an seine Texte. Seine Bücher (er verfasste mittlerweile 12 Romane) haben ihm renommierte Preise eingebracht, so gleich zweimal den Booker-Preis für „Michael K.“ (1983) und „Schande“ (1999). In der New York Review of Books schreibt er regelmäßig Essays über Bücher und Schriftsteller – zuletzt über Rilke, Kafka, Borges, Appelfeld, Benjamin.
Auch jene Werke, deren Handlung sich klar verorten lässt (im heutigen Südafrika, in Dostojewskis Petersburg), sind keineswegs realistische oder gar sozialkritische Literatur. In ihnen wird die Wirklichkeit derart extrapoliert, dass Lust und Schmerz, Freiheit und Notwendigkeit, Begierde und Gewalt im Innern der Personen bloßliegen. Coetzee hat in seinen Romanen das imaginäre Paradies (und die imaginäre Hölle) der Individuen präsentiert, einen Raum mithin, in dem die Individuen und die Dilemmata, die sie mitschleppen, in ihrer ganzen Größe und Unlösbarkeit einander gegenübertreten können – ohne Urteil. So gibt es in dem „demokratischen Utopia“ seiner Romanwelt nicht eine Wahrheit, sondern viele Wahrheiten, die lebendig sind; die Eindringlichkeit seiner Bilder rührt nicht zuletzt aus der Symbolkraft seiner Szenen und der Klarheit seiner Sprache.
Immer wieder verweilen die akademischen Debatten in „Das Leben der Tiere“ auf den Ritualen, die dereinst den Umgang mit Tieren prägten: Anbetungsrituale, Opferrituale, Essrituale. Coetzee lässt seine Figuren erkennen: Wo es keine einen gemeinsamen Sinn stiftende und Achtung gebietende Erzählung der Welt gibt, wo weder Glaube noch eine „irdische Transzendenz“ (eine gemeinsame Geisteshaltung, verbindliche, unveräußerliche Menschenrechte und Tierrechte etwa) den Menschen wie den Tieren Raum gewähren, ist der Schritt zur Enthemmung und schließlich zur Auflösung jeglicher Hemmungen nur klein.
Zwei Gründe gebe es für die Enthemmung der Beziehungen zwischen Mensch und Tier, meint Mrs. Costello: Schuld sei zum einen die vorherrschende Ideologie (sprich: die Überhöhung des Verstandes als gattungsmäßiger Differenz), zum anderen die technische Überlegenheit (hier: die Erfindung der Schusswaffe) und die daraus resultierenden Gewaltverhältnisse. Ideologie und Technik hätten die Grenzen und Hemmungen des Menschen im Zusammenleben mit den Tieren geraubt. Die enthemmte Gewalt jedoch mache nicht bei den Tieren Halt, sie habe längst die Beziehungen der Menschen verheert.
Im ersten Teil („Die Philosophen und die Tiere“) rekapituliert Mrs. Costello in einem Parforceritt die Geringschätzung der Philosophie für das Leben der Tiere, im zweiten Teil („Die Dichter und die Tiere“) widmet sie sich dem Umgang mit dem Leben der Tiere in der Literatur; dabei preist sie das Einfühlungsvermögen, das in ihren Augen zentral ist für die Rückkehr zu menschlichen Verhältnissen. Denn das Schlimme an den KZs, sagt sie, sei nicht gewesen, dass die Mörder ihre Opfer wie Ungeziefer behandelten, obwohl sie doch genauso Menschen waren wie sie. „Das ist zu abstrakt. Der Schrecken besteht darin, dass die Mörder sich weigerten, sich in ihre Opfer hineinzuversetzen.“
Die Einfühlung der Schriftsteller ist zuallererst der verzweifelte Versuch, gegen das allgemeine Gefühl der Verlassenheit eine Verständigung, anders gesagt, ein Stück gemeinsamer Welt wiederzuerschaffen. Mrs. Costellos Plädoyer ist also Coetzees ureigene Liebeserklärung an die Lebendigkeit, ja Lebensnotwendigkeit der Literatur. Schriftsteller sind keine besseren Menschen, doch sie können, folgt man Mrs. Costello, – zumindest für Momente – vorhandene Abschottungen durchbrechen, Welten öffnen, Individuen einander begegnen lassen.
Schreiben ist für Coetzee nicht nur ein Dialog mit anderen, toten wie lebenden Dichtern. Auch seine eigenen Werke stehen in einer dialogischen Spanne zueinander. Das Leben der Tiere korrespondiert vom Thema her eng mit dem etwa zeitgleich verfassten Roman „Schande“. Mr. Lurie, ein Literaturprofessor, den die Schande einer sexuellen Beziehung mit einer Studentin aufs Land treibt, stößt dort auf die Tatsache, dass Tiere als eigenständige Wesen (nicht als Haustiere oder Schoßhündchen) dem Menschen entgegentreten – eine Dimension, die in der Stadt längst verschwunden war. Ganz nebenbei jedoch erzählt Coetzee eine Geschichte, die verdeutlicht, wie fremd das „Leben mit den Tieren“ dem Protagonisten Lurie sein muss: Der schwarze Landarbeiter Petrus, der Farmbesitzer werden will, kauft Schafe für das Festmahl der Landüberschreibung und pflockt diese drei Tage lang zu Hause an, um die Menschen vor dem Verzehr mit ihnen vertraut zu machen. Lurie ist entsetzt, denn dieses Ritual macht spürbar, dass die Schlächter dessen, was wir verzehren, unter uns sind.
Der ländliche Umgang mit den Tieren bringt ihn ins Grübeln. Auch wenn er, wie er betont, immer noch nicht glaubt, dass „Tiere wirklich ein individuelles Leben haben“, kann er die Tierschützerin Bev nicht einfach ignorieren, die Tieren, die niemand mehr will, den Gnadentod gibt. „Euthanasie“, urteilt Lurie. Doch Bev tut dies nicht aus Verachtung gegenüber der tierischen Rasse, sondern aus Hingabe, aus Liebe, wie sie sagt. Jemand müsse es tun, denn die Logik der Gesellschaft laute: Sie sind überflüssig; „because we are to menny“, sprechen die Hunde in schwarzenglischem Dialekt ihr eigenes Vernichtungsurteil. Da sei es besser, argumentiert die Tierschützerin, wenn sie einer umbringe, dem es etwas ausmache, dass sie sterben. Für die Tiere sei es so ein friedlicheres Ende. Eine Euthanasistin mit Einfühlung also, und zwar mit genau jener Einfühlung, die Mrs. Costello forderte.
Überflüssige Kreaturen
Der Roman zeigt, wie begrenzt Costellos Plädoyer notwendig ist, denn ob mit Hingabe oder ohne: Ergebnis ist, dass sich die „überflüssigen“ Kreaturen reibungslos in das, was man die logischen Folgen ihres Überflüssigseins nennt – in ihre Vernichtung nämlich – einfinden. Die Opfer geben sich selber auf. Zur Wahrung ihrer letzten Würde (nämlich würdevoll zu sterben) macht sich Bev selbst zur Mörderin. Man sieht, es gibt keine Wahrheit und keine Freiheit. Aus freiem Willen würde Bev die Tiere retten, die Euthanasie an den Hunden ist für sie nur ein Ausweg.
Auch der Vegetarismus der Schrifstellerin ist so ein Ausweg. Er entspringt keiner moralischen Grundhaltung, sondern ist ihr Versuch, angesichts des Weltverlustes „ihre Seele zu retten“, um „nicht stumm da(zu)sitzen“. Denn mit dem Schweigen und dem Wegschauen geht die Welt, geht das Teilhaben an der gemeinsamen Welt verloren. Ist es denn möglich, fragt sie sich am Ende, dass alle Menschen um sie herum, so freundlich sie auch sind, in Wirklichkeit an einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes teilhaben? „Ich muß wohl verrückt sein!“
Verzweifelt ringt die Schriftstellerin Costello um eine Weltansicht, in der Herr und Mensch und Tier irgendeine Art von gemeinsamem Leben führen könnten. „Wir haben nur dieses eine Leben“, hatte die Tochter von Lurie in „Schande“ plädiert, „das wir mit den Tieren teilen.“ Auf die Frage von Mrs. Costello „Warum kann ich mich nicht damit abfinden, dass alles freundlich aussieht und mörderisch ist?“ antwortet ihr Sohn in „Das Leben der Tiere“ mit einer Umarmung – und mit dem Satz: „Bald ist es vorbei.“ Was eigentlich? Das Leben? Oder: diese unmenschliche Zeit?
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