: Moral muss geduldig sein
Das „therapeutische“ Klonen von Embryonen wird vorangetrieben. Sehrbedeutsame moralische Prinzipien werden für hypothetische Heilungschancen geopfert
Sich zu verjüngen ist ein alter Traum der Menschheit. Es ist leicht zu verstehen, dass wir der Krankheit und dem Alterungsprozess der Zellen unserer wichtigen Organe entgegenwirken wollen. Aber ist deswegen das Angebot einer Embryonen verbrauchenden Stammzellforschung ein Diktat, dem sich die Gesellschaft fügen muss? Hat sich die Politik schon angewöhnt, Ohrschützer anzuziehen, um Kritiken am Fortschritt im Einzelnen nicht mehr hören zu müssen? Überhaupt: Wer ist denn schon fortschrittsfeindlich in dieser Gesellschaft? Es ist allerdings zu fragen, ob bisher nur erhoffte Zwecke gegen reale, moralisch problematische Mittel abgewogen werden dürfen.
Niemand wird die Hoffnung (und es ist eben nur eine Hoffnung!) beseitigen wollen, die das Potenzial von Stammzellen für zukünftige Therapien begleiten. Doch die wissenschaftlichen Expertisen zeigen, dass es noch eine Weile dauern kann, bis man weiß, was man erreichen kann (Zellen oder Organe), welcher Stammzellentyp wie am meisten Erfolg verspricht, wann und für welche Klientel.
Es gibt gute Gründe, sich zunächst für erwachsene Stammzellen zu entscheiden: Sie sind dem zukünftigen Patienten autolog – also verträglich –, und sie stellen nicht spezifisch moralische Probleme wie die embryonalen Stammzellen. Dem gegenüber wird immer gern behauptet, dass wir eine Moral, die frühe menschliche Lebewesen schützt, ohnehin durch die Regelungen zur Abtreibung längst hinter uns gelassen hätten. Außerdem ließe sich der Schutz von Embryonen gegen verbrauchende Versuche nicht mehr im allgemeinen Konsens begründen, da es eben in unserer Gesellschaft verschiedene Moralen gebe. So müsse man nun nach einem übergreifenden Minimalkonsens suchen, und das erfordere den gesellschaftlichen Diskurs. Merkürdig nur, dass sich politisch nicht halten kann, wer wie Frau Fischer eine eingespurte Expertokratie dem gesellschaftlichen Diskurs aussetzt, der nicht nur den Scheuklappenblick Richtung Verwertbarkeit kennt. Merkwürdig auch, wie die Regelungen zur Abtreibung missverstanden werden. Sie werden zur „Lizenz zum Töten“ stilisiert – dabei handelt es sich nur um Straffreiheit, um in einem existenziellen Konflikt zwischen werdender Mutter und werdendem Kind den Lebensschutz zu fördern. Zwischen den Mühlsteinen der Vereinfacher wird der moralische Sand im Getriebe zu Staub zermahlen.
Ohne Zweifel gibt es, was die frühen Embryonen betrifft, unterschiedliche Ethiken, unterschiedlich in der Herkunft und unterschiedlich in den Kriterien der Beurteilung. Aber es gibt keine Hypermoral, die sich über die Kontroversen der Moral erheben könnte, indem sie – selbst moralisch scheinbar standpunktlos – die Verkehrsregelungen in der Moral, eine Art Polizeigewalt, zu übernehmen hofft. Wir dürfen unsere Konflikte nicht in dieser Weise verdrängen, wir müssen sie austragen. Wer meint , dieser Versuch sei bereits gescheitert, hat kein ernsthaftes Interesse, sich daran zu beteiligen.
Was aber ist mit der Gefahr des Maximalismus, auch gern Fundamentalismus genannt? Dazu sind einige differenzierende Worte nötig. Wer sich nämlich im Konflikt um das so euphorisch „therapeutisch“ genannte Klonen (man beachte die Sprachpolitik!) für den Lebensschutz des einzelnen Embryos einsetzt, muss keinen „absoluten“ Standpunkt vertreten. Vielmehr handelt es sich um eine Bündelung von Argumenten, die hier zusammenwirken: Dazu gehört die Potenz der Embryonen, alle Möglichkeiten des Menschseins zu entfalten. Es zählt dazu die Kontinuität in der Menschenentwicklung, die es nicht erlaubt, willkürlich zu definieren, ab welchem Tag oder welcher Woche plötzlich das „Menschsein“ beginnt. Bedeutsam ist das von Anfang an vorhandene Geschlechtsmerkmal. Zusammengehalten werden diese Argumente – sosehr sie im Einzelnen diskutiert sein mögen – von den Unklarheiten, die sofort auftreten, wenn eine bestimmte Grenze für die Schutzwürdigkeit von Embryonen gezogen wird. Und auch ein bloßer Dezisionismus, der je nach Forschungsbedarf mal das menschliche Lebewesen zum Menschen ernennt oder ihm diese Ernennung streitig macht, ist moralisch unzulänglich. Schließlich ist die Sorge berechtigt, was passiert, wenn man einmal die Achtung der Menschheit in jedem Menschen (Immanuel Kant) aufgibt. Denn dann wird die Unterscheidung zwischen den Menschen nach Qualitäten und Zuständen möglich – eine schiefe Bahn, auf der zum Beispiel auch der Stein des Widerstands gegen die aktive Euthanasie herabrollt. In der Ethik, dies ist den mit Scheuklappen und ohne weitere Umsicht nur nach vorn blickenden Wissenschaftlern und Politikern zu sagen, ist die Isolierung von Problemen nicht mehr möglich.
Die so umschriebene Position gegen den Embryonenverbrauch ist abwägungsfähig. Auch unschuldige menschliche Lebewesen können nicht in jeder Extremsituation Priorität beanspruchen. Die Beweislast ist dabei freilich so hoch, dass hier wirklich Leben gegen Leben stehen muss. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, inwieweit durch Kerntransfer in eine entkernte Eizelle entstandene „Embryonen“ in jedem Fall zum Menschen werden können. Der Nachweis der Effizienz der Dolly-Methode beim Menschen wäre freilich unmoralisch. In der Tat wird nicht nur in Italien darüber spekuliert, inwiefern bestimmte Erzeugnisse aus der Eizelle Körperzellkerne von Erwachsenen reprogrammieren könnten, ohne dass wir es mit Embryonen zu tun haben. Das entsprechende Wissen kann nicht von Ethikern erarbeitet werden, es ist aber auch nicht rein biologisch zu definieren. Die interdisziplinäre Forschung ist hier erneut gefragt: In jedem Fall bleiben beträchtliche Einwände gegen die Eizellspende, schon weil die Entnahme von Eizellen eine hohe Belastung darstellt und eine Kommerzialisierung des menschlichen Körpers ebenfalls moralisch bedenklich ist.
Forschung, die heilen will, ist ungeduldig. Außerdem hängt sie leicht, in eine Richtung schauend, der zweifelhaften Moral an, wonach der gute Zweck ein schlechtes Mittel heilige. Moral aber muss geduldiger sein und darf nicht zu schnell dem politischen Pragmatismus nachgeben. Das Prinzip der Vorsicht sollte angesichts der Lehrstunden, die uns die zweideutigen Folgen spitzentechnologischer Entwicklungen auch auf anderen Gebieten verpassen, ernst genommen werden.
Diese Überlegungen verzichten auf große moralische Worte wie Person und Menschenwürde. Die Diskussion um das, was Menschenwürde ausmacht, bleibt jedoch wichtig. Die höchste umfassende moralische Kategorie der Menschenwürde leidet freilich unter dem Dauerstress ihrer Anwendung auf alle moralischen Probleme. Umgekehrt können, wie ich zu zeigen versuchte, Einzelfragen manchmal mit nächstliegenden und dringlichen Argumenten geklärt werden, ohne dass jedoch die notwendige Auseinandersetzung in Grundsatzfragen zu einem Ende gekommen ist.
DIETMAR MIETH
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