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Die Spaziergängerin von SoHo

Früher war alles besser, aber was soll man dazu heute noch sagen? Vincent Fremonts „Pie in the sky – The Brigid Berlin Story“ (Forum) porträtiert die New Yorker Künstlerin, die Warhols beste Freundin, Inspiration und Factory-Empfangsdame war

von HARALD FRICKE

Zum Glück hat Andy Warhol Tagebuch geführt. Am 6. März 1980 notiert er, nachdem Brigid Berlin beinahe von einem Lkw überfahren worden wäre: „Ich war so glücklich, dass Brigid noch lebte, deshalb sagte ich zu ihr, sie könne alles in der Welt haben, und so nahm sie Eiskrem (vier Mal zu 75 Cent und Kekse von Greenberg’s zu 90 Cent und dann Kuchen für 12 Dollar, und Big Macs für 8 Dollar und 52 Cent)“. All das verschlingt Brigid Berlin offenbar binnen einer Stunde, zum Amüsement von Warhol. Sie konnte aber auch noch viel schneller essen: In Vincent Fremonts Dokumentation „Pie in the sky – the Brigid Berlin Story“ gibt es eine Sequenz, in der Berlin drei Hot Dogs in sich hineinscheibt – in gerade mal einer Minute.

Obwohl er ihre Fresssucht unangenehm fand, war Berlin lange Zeit Warhols beste Freundin. In seinem Tagebuch taucht sie in 120 Eintragungen auf, häufiger schreibt er nur über seinen Boyfriend Christopher Makos, den Mäzen Halston, Interview-Redakteur Bob Colacello und Vince Fremont. Fremonts Film über Berlin ist insofern zwangsläufig ein Treffen alter Bekannter aus der Factory: Er selbst wurde 1969 Manager des Büros, Berlin durfte dort in den Achtzigerjahren als Rezeptionsdame arbeiten.

Für sie war der Job, wie sie im Gespräch sagt, eine Degradierung. Immerhin hatte Warhol von ihr die Ideen zu diversen Projekten bekommen. Sein Tick mit den Polaroidaufnahmen geht ebenso auf Berlins eigene künstlerische Arbeit zurück wie die endlosen Tape-Recordings, die Warhol für sein „Philosophy“-Buch benutzte. Im Gegenzug lernte sie von ihm, wie man sich vermarktet: Warhol ermutigte sie dazu, ihre „Tit“-Prints als Kunstspektakel auszustellen. Manchmal drückt sie ihre Brüste noch heute auf ein Blatt Papier. Meistens sitzt sie aber in ihrem Zimmer, staubt ihre Porzellanmopssammlung ab, ordnet ihre Fotos von einst in Kisten, kämmt ihr Haar, schaut in den Spiegel und sieht eine 61 Jahre alte Frau mit stechendem Blick und Lippen, schmal wie ein Klettverschluss.

Die meisten Probleme macht ihr allerdings immer noch das Gewicht: Mal sieht man sie konzentriert Joghurt mit einer Waage abfüllen, damit die Diät ja eingehalten wird; später schaufelt sie hemmungslos Torten in sich hinein. Wenn alles gut geht, hält sie sich manchmal für ein paar Wochen so, wie sie sein möchte: als ältere, mittlerweile doch schmächtige New Yorker Lady, die große Angst vor Krebs hat und ansonsten durch SoHo spaziert, um Gemüse zu fotografieren. Nur einmal begleitet sie das Filmteam auch ins Chelsea-Hotel, aber da wird Berlin zwischen schlechten Gemälden und „Bitte nicht rauchen!“-Hinweisschildern schnell depressiv. Früher war alles besser, bloß was soll man dazu heute noch sagen?

Entsprechend hält sich Fremont an die Biografie. Gegen 1962 kommt Brigid nach New York. Sie ist die Tochter von Richard „Dick“ Berlin, der Randolph Hearsts Zeitungsimperium in den Vierzigerjahren aus der Krise führte und seitdem zu den mächtigsten Medienleuten der USA zählt. Während die Berlins in ihrer Uptown-Residenz Nixon und Edgar J. Hoover empfangen, nennt sich ihre Tochter in Polk um, zieht in Warhols Factory und bekommt eine Rolle in „Chelsea Girls“ – als drogensüchtige, fettleibige Lesbe. Nebenbei hat sie eine Show in Greenwich Village, für die sie Leute aus der Verwandtschaft und andere reiche Bekannte anruft, um das Gespräch dann in den Publikumsraum zu übertragen. Als sich ihre Mutter über Brigids Lebenswandel aufregt, lachen die Leute.

Mehr im Plauderton erzählt der Film, wie sich in den Sechzigerjahren die US-Elite auflöste. Berlin findet in der Wahlfamilie Schutz vor einem Leben als Vorzeigetochter. So zumindest schildert Berlin mit eisiger Miene den Bruch von damals. Ganz so einfach kann die Trennung allerdings nicht gewesen sein: Immerhin waren Brigid und Andy noch in den Achtzigerjahren bei Honey Berlin zu Gast, weil Mutter doch immer noch einen Scheck für ihr Kind bereitliegen hatte. Ein wenig verwundert schaut Brigid irgendwann auf ein altes Foto, denkt über ihren Sauberkeitswahn und die Gewichtsprobleme nach, um dann festzustellen: „Mutter war genauso!“ Nicht fett, aber obsessiv.

„Pie in the sky – The Brigid Berlin Story“. Regie: Vincent Fremont, USA, 75 Min.

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