: Ausgefranste Linien und andere Wunden
Mit dem Roller zum 206, nach dem Espresso ein paar Pillen, und dann kann man sich den wirklich wichtigen Fragen zuwenden: Hat Nicolette Krebitz zugesagt? Was ist mit Poschardt, der Schaubühnenbande? Und wie heißt eigentlich der Künstler? – Aus dem Tagebuch eines Ausstellungsmachers
von KLARA WALLNER
Eine verdammt lange und verdammt verkokste Nacht liegt hinter mir. Nichts Besonderes. Eigentlich wie immer. Aufstehen, wie immer, aufstehen, irgendwas frühstücken, Nicki anrufen, nein, sie ruft mich an, auch wie immer – wahrscheinlich zum dritten oder vierten Mal an diesem Morgen, es geht ihr schlecht, sie ist rückfällig geworden – muss nach dem BIBA-Shooting die ich weiß nicht wievielte Kur machen – es geht ihr schlecht. Scheiße, sie fehlt mir, ich kann sie riechen. Scheiße, es geht mir schlecht. Wer zum Teufel hat dieses gestreckte Koks auf den Tisch gepackt? Ich glaube, ich muss kotzen.
Ich stolpere zum Kühlschrank, reiße die Tür auf, schnappe mir die letzte, halb volle Absolutflasche und schreie ins Telefon „Nicki, Baby, Schatz – Scheiße, du fehlst mir. Wo warst du? Ja, ich habe auf dich gewartet, wo, verdammt noch mal? Oh Baby – im P.U.N.K. Club. Alle waren da. Na gut, nicht alle. Nein, es war nicht so voll wie sonst. Two Step und eine verdammt hohe Konzentration an berühmten Leuten . . . und pseudowichtigen Schlauscheißern. Wein doch jetzt bloß nicht so, verdammt, hör auf zu heulen, Scheiße, Baby, du fehlst mir so, na klar kann Tom was für mich tun, Fake und Wahrheit liegen sooo dicht beieinander. Ja, wir treffen uns heute Abend bei NEU (nach Stall riecht es dort schon lange nicht mehr), lass uns danach in die Paris Bar gehen, es sind ein paar wichtige Leute in der Stadt, und hör verdammt noch mal auf zu heulen – ich liebe dich.
Duschend gieße ich den letzten Schluck Absolut in mich hinein. Danach trete ich mich mit dem Roller zum 206, picke meinen geänderten Guccianzug ab, trete mich durch die Verlängertes-Wochenende-Massen, grüße Gerwald Rockenschaub von weitem und nehme einen kleinen Schwarzen im Einstein, mit dem Leitungswasser schlucke ich zwei Expossy, und dann weiter zum S-Bahnhof Friedrichstraße, klappe den Roller zusammen, und ab zum Ostbahnhof.
Hasenkamp steht vor der Kunsthalle, und irgendwie erscheint mir alles plötzlich so unwirklich. Was soll das Ganze, verflucht, was soll die Scheiße? Ich hätte die Guccischlappen doch noch kaufen sollen. Soll ich noch mal zurück? Scheiße, da steht diese Journalistentusse von dem wohl beschissensten Kunstblatt überhaupt. Kunstmagazin, verdammt, Gazette, liegt bei jedem Zahnarzt, Friseur, und meine Mutter hat es abonniert.
„Wer in drei Gottes Namen hat diese Schlampe hierher bestellt?“, raune ich Ernst zu. „Du hast es irgendwie geschafft, mein Schatz, dass sie dich ab heute ein paar Tage lang begleitet. Die Headline lautet: Wie entsteht eine Ausstellung“, säuselt Ernst und sieht mich verliebt an. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich seit GESTERN auf Mädchen stehe“, antworte ich so kalt, wie ich nur kann (der Typ nervt, verdammt, er nervt ohne Ende).
Ich durchschreite die Ausstellungshalle, starre auf die rechte Wand und traue meinen Augen nicht: „Ausgefranste Linien – überall ausgefranste Linien, da! – und das da oben – und das dritte Bild von rechts und das zweite links unten und das ganz kleine rechts außen und alle mittleren und das und das da auch. Kann mir bitte jemand ein gekühltes Kombucha besorgen?“, schreie ich und stecke mir eine Nil an.
Ich bin außer mir, fühle mich verfolgt, ich habe das Gefühl, zu explodieren. „Ich wollte das ja schon vor ein paar Tagen jemandem sagen, aber da kam das Interview mit Tom Kummer dazwischen, und niemand hat mich gewarnt, und überall sehe ich plötzlich diese ausgefransten Linien, und Josef Gromcek – oder wie auch immer dieser begnadete Künstler heißen mag –, ruf ihn an! – wo steckt er zum Teufel?“
Das gesamte Team hat sich mittlerweile um uns versammelt. „Hey, Jungs – da sind sie, diese ausgefransten Linien, ausgesprochen merkwürdige ausgefranste Linien, und die sehen mir ganz und gar nicht zufällig aus, eher wie ganz bewusst ins Bild gesetzt – bloß, was haben sie da zu suchen, und wo kommen sie so plötzlich her? – Also, ich will jetzt die Wahrheit wissen – keine langen kunstästhetischen Abhandlungen hören, nur klipp und klar die Geschichte bitte, schnell, keine philosophischen Ergüsse: Was, wie, wann – na sagt schon, und vor allem, warum, obwohl ich nicht annehme, wenn ich in eure ausdruckslosen Fressen schaue, dass es ausgerechnet auf das Warum eine Antwort gibt – also hopp, hopp, haut rein, was soll das Ganze?
„Karl, diese Bilder hier hat Joachim Grommek gemalt“, korrigiert mich JH leise (irgendwie kommt der Name mir bekannt vor – hat er ihn vorhin schon einmal genannt?). „Nicht, hm, Joop van Grobscheck, ich meine Jochen Grmschk, ach Scheiße – Ernst, hilf mir.“ – „Schatz (sein Augenaufschlag spricht Bände), aber du hast Joachim Grommeks Arbeiten ausgesucht, und genau diese, weil sie in dieser Show nicht fehlen dürfen“, sagt Ernst. Kisten, quietschende Lupofolie, irgendjemand kommt immer vorbei. Die Ladung Expossy hat mich inzwischen ruhiger gemacht, fast lethargisch.
„Nicki ist für dich auf Leitung acht“, ruft Ernst säuerlich von irgendwoher. „Okay, pack sie auf die eins – du kleine Schwuchtel!“, schreie ich durch die Halle und greife mir das Mobile. „Liebes, wo steckst du, geht’s dir besser, du fehlst mir, Scheiße ich liiiiiiebe dich!“, schreie ich, so laut ich nur kann, und sehe dabei in Ernsts gequältes Gesicht.
„Kannst du dich nicht erinnern, Karl?“, fragt JH leise. „Verdammt, woran soll ich mich erinnern, was willst du mir weismachen, JH?“ Ich bin völlig durcheinander, nicht nur die ausgefransten Linien machen mir Sorgen, wie soll diese ganze Scheiße bis zur PK stehen, wir haben nur noch zwei Tage, und dann noch das mit den ausgefransten Linien. „Hey, Baby, komm her. Sag deinem Fotografenarsch, er soll ein paar nette Fotos vom Team machen, und die hinteren Räume, die stehen schon (in etwa), die kann er auch fotografieren, aber diesen Raum hier und vor allem die Bilder mit den ausgefransten Linien, die werden vorerst nicht abgelichtet, ist das klar?“ Die Journalistin weist den Fotoheini an und spricht beleidigt in ihr Diktafon. Sie weiß offenbar noch nicht, dass der Text von mir autorisiert werden muss, haha.
„Karl“, haucht Ernst entsetzt und macht eine theatralische Pause, bevor er mich mit sanftem Druck in eine Ecke (zwischen Kisten und Lupofolien) schiebt, meinen Kopf nah an seinen heranzieht, mir tief in die Augen schaut und dann superruhig sagt: „Karl, es muss wirklich niemand erfahren, dass ich für dich diese Ausstellung zusammengestellt habe. Wirklich niemand. Aber es könnte jeder erfahren. Wirklich jeder. Reiß dich zusammen, verdammt, lies den Katalogtext, den ich für dich geschrieben habe, los, lies ihn!“ Ernst zieht ein Manuskript aus seinem Burberryrucksack, drückt mich auf eine Kiste und reicht mir einen Joint und ein Kombucha (weiß der Teufel, wo er das Kombucha her hat – Joints hat er immer für mich parat). Ich greife in meine Jackentasche, suche nach dem Plastikteil, finde es nicht gleich und verfluche Helmut Lang, finde es endlich, drücke zwei Expossys heraus und spüle sie mit Kombucha runter, suche nach dem heruntergefallenen Joint, finde ihn, stecke ihn zwischen die Lippen, und Ernst gibt mir Feuer.
„. . . Grommeks neue Arbeiten tragen den Titel ‚deepxess‘. Ein Wortspiel, das sich aus den Worten ‚deep‘ und ‚xess‘ zusammensetzt.“ Langsam kommt die Erinnerung zurück . . . ich inhaliere das letzte Gras, mache den Joint aus und schließe die Augen. (e)x(z)es(s), ja genau – deepxess: deep, exzess, sex. Das Wort(spiel) kommt wie ein Label daher. Gucci, Lang, Prada, deepxess, Braun . . . deepxess klingt kultig, deepxess ist der Spiegel unseres Lebens und suggeriert den anderen, dass sie es haben müssen. Eine verdammt gute Werbestrategie. Fiktion und Realität liegen dicht beieinander. JH kommt vorbei und reißt mich aus meinen Gedanken. „Wollen wir die Gästeliste durchgehen?“ – „Später“, sage ich ruhig (seltsam ruhig) und lese weiter. „Die ausgefransten Linien fungieren einerseits als Abgrenzung zwischen malerischer und kunststoffbeschichteter Oberfläche, andererseits sind sie als Wunden, die sich im Heilungsprozess befinden, zu verstehen . . .“ Eine wirklich gute Art, mit Appropriation umzugehen, denke ich (komme mir dabei ungeheuer klug vor), schmeiße das Manuskript in die Ecke und mache mich auf den Weg zu Grommeks Arbeiten.
Ich starre auf die Wand, und auf einmal wird mir einiges klar. Ernst steht plötzlich neben mir und unterbricht meinen Gedankenfluss (ich war noch nie so klar wie gerade jetzt). „Findest du nicht auch, dass Grommek, ähnlich wie Förg, Referenzen an die Kunst an sich, die eigene und die Kunst der Moderne herstellt?“, frage ich ihn. „Ich denke, bei beiden tritt Unvereinbares gegeneinander an“, sagt Ernst.
JH kommt (mit der Gästeliste) angerannt und nennt eine Menge Namen, Sternchen und Stars, Wichtige und Wichtigtuer, Politiker und Senatsfuzzis, Szeneleute, Kuratoren und Künstler, Leihgeber, Sammler und Sponsoren. „Hat Nicolette Krebitz zugesagt, was ist mit Poschardt, Hetzler und der Schaubühnenbande? Haben die Joachimides, Judy, Hoffmanns, die 303 Girls, Marks, von Becker, Stefan Heidenreich, Paul Maenz und Mehdi Chouakri und Monika Grütters, Schlingensief und Udo Walz zugesagt, kommt Schuster in Begleitung, an welchen Tisch setzen wir die Prinzessin, Zwingers und Webers – hat Dee Dee Gorden schon angerufen, was ist mit Graf Douglas, Andre C. Hercher, Jörg Heiser und Tita von Hardenberg, kommen die Jagdfelds . . .?“
Unsere PR-Frau kommt angerannt, hält mir das Telefon entgegen und raunt mir zu: „Unser Hauptsponsor, sie wollen wissen, an welchen Tisch wir Claudia plazieren.“ Ich nehme ihr den Hörer aus der Hand und säusele: „Hallo, Madame, weil wir es uns wert sind, werden wir Claudia mit wirklich interessanten Leuten konfrontieren. Würde ihnen der Tisch mit Damien Hirst, Oskar Roehler, Tita von Hardenberg, Dee Dee Gorden und Harald Szeemann gefallen?“ Am anderen Ende ist es zunächst einmal still – dann sagt Madame, dass Claudia sich freuen wird. „Hast du gehört, was ich gesagt habe, JH? Also sieh zu, dass du die Leute herkriegst, und merke dir die Tischordnung.“
Tage später wache ich in einem schneeweißen Raum auf. Mein Kopf ist eingegipst und schmerzt, mein ganzer Körper schmerzt, ich kann mich nicht bewegen, über mir ein Infusionsgestell, neben mir eine Krankenschwester, ich kann mich an nichts erinnern, und an der gegenüber liegenden Wand hängt ein Bild, auf dem zwei ausgefranste Linien sind – Wunden schmerzen, wenn sie heilen.
In den Zeitungen stand, dass ich überfallen worden bin, eine Stunde vor der Ausstellungseröffnung. Mein Kopf soll blutüberströmt gewesen sein. Ein Taxifahrer hat mich gefunden und ins Urban-Krankenhaus gebracht. Stölzl soll eine brillante Rede gehalten haben, und Ernst hielt, nachdem er mich nicht erreichen konnte, meine, seine Rede – die Zeitungsfotos sehen gut aus (Ernst zwischen Claudia, Peter Müller und der Journalistin), und er soll, so die Zeitungen, bis auf Weiteres kommissarischer Direktor der Berliner Kunsthalle sein, die Ärzte vermuten, dass ich nie wieder sprechen kann . . . Und überall diese ausgefransten Linien. Weiß der Teufel, wo die herkommen . . .
Vielen Dank an Bret Easton Ellis und Max Wechsler
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