Vergelten statt Nachdenken

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

„Einen Genozid am armenischen Volk hat es nie gegeben.“ Volkan Vural ist überzeugt: „Die Resolution des französischen Parlaments zeigt nur, dass es starke Kräfte gibt, die die Türkei aus der Europäischen Union heraushalten wollen.“ Lieber spricht der Chef des Koordinierungsrates für den türkischen EU-Beitritt von „Umsiedlungen“, die im Verlauf des Ersten Weltkriegs aus militärischen Gründen durchgeführt wurden und die, wie immer in solchen Situationen, natürlich auch zu pyhsischem Leid und materiellen Verlusten geführt hätten. Mehr war nicht, alles andere seien üble Verleumdungen, in die Welt gesetzt von den Feinden der Türkei.

Am 18. Januar hat die französische Nationalversammlung einstimmig das Vorgehen der Türkei gegen die Armenier im Jahr 1915 als Völkermord eingestuft. Damals sind nach armenischen Angaben 1,5 Millionen Menschen zu Tode gekommen (siehe Kasten). Die Reaktionen von türkischer Seite kamen prompt und heftig: Das Massenblatt Hürriyet etwa veröffentlichte eine Liste zu boykottierender französischer Waren, vor der französischen Botschaft versammelten sich Demonstranten, und private Initiatoren riefen auf, Frankreichreisen zu stornieren. Entrüstet ist auch die türkische Regierung. Erst gestern wurde bekannt, dass Ministerpräsident Ecevit seine Dienstwagenmarke gewechselt hat – von Renault zu Hyundai.

Außenminister Ismail Cem, einer der wenigen Intellektuellen im Kabinett von Ecevit, legte kürzlich gegenüber Frankreich jegliche Zurückhaltung ab und bezeichnete die Entscheidung des Parlaments als „postmodernen faschistischen Reflex“. Die Resolution, so Cem, sei „eine xenophobe Manifestation, eine Beleidigung für die Türken und die gesamte muslimische Welt“.

Als dann Frankreichs Präsident Jacques Chirac Ende Januar das Dekret unterzeichnete, blieb es nicht bei harschen Worten: Mehrere Hunderte Millionen Dollar schwere Aufträge an die französische Rüstungsindustrie wurden storniert und französische Firmen als Anbieter bei weiteren Großprojekten ausgeschlossen. Selbst nachdem die EU-Kommission Ankara zur Mäßigung aufgerufen und auf mögliche Verstöße gegen Handelsabkommen hingewiesen hatte, wurde umgehend verkündet, dass der Thomson CSF Konzern aus dem Kreis der Anbieter neuer Radarsysteme für die Flughäfen in Istanbul und Ankara ausgeschlossen wurde.

Schon lange nicht mehr hat eine ausländische Entscheidung in der Türkei für so viel Erregung gesorgt wie die schlichte Feststellung der französischen Nationalversammlung, an den armenischen Bewohnern des Osmanischen Reichs sei 1915 ein Völkermord verübt worden. Nach jahrzehntelanger Verdrängung und Tabuisierung der so genannten Armenierfrage befindet sich die türkische Gesellschaft unverhofft mitten in einer schmerzhaften Diskussion über die eigene Vergangenheit. Denn so massiv die türkische offizielle Politik nach außen auch auftritt – im Innern ist die Verunsicherung nicht mehr zu kaschieren. Wenn die Sache doch so klar ist, warum geht die Regierung dann nicht offensiver vor und lädt international renommierte Historiker ein, damit diese sich die osmanischen Archive anschauen? ist eine derzeit häufig geäußerte Frage. Haben wir vielleicht doch etwas zu verbergen? „Sind die Archive nun zugänglich oder nicht?“, werden die obersten Archivare der Nation in öffentlichen Diskussionsrunden gefragt, und plötzlich müssen türkische Bürger vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben feststellen, dass es so einfach offenbar doch nicht ist.

Bereits nach vier Wochen öffentlicher Auseinandersetzung über die armenische Frage zeichnen sich drei Lager ab. Die Mehrheit stellt sich immer noch hinter die regierungsoffizielle Version und fordert Vergeltung statt Nachdenken. Da werden französische Sprachkurse an den Universitäten gestrichen und wird angedroht, Franzosen nicht mehr im Taxi zu befördern. In Teilen der Bevölkerung geht die Hysterie so weit, dass Ministerpräsident Ecevit mahnte, die Boykotte dürften nicht dazu führen, „dass wir uns selbst schaden“. Das am häufigsten gekaufte Autos in der Türkei etwa ist der Renault – eine im Land produzierte Lizenzversion.

Die zweite Gruppe knüpft an diese Mahnungen an und fordert zunehmend lauter eine politische Neuorientierung, da die bisherige Strategie der Regierung versagt habe. „Völlig egal wie die historische Wahrheit aussieht“, so der einflussreiche Publizist und Anchor Man von CNN Türk, Mehmet Ali Birand, „wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass der ganz überwiegende Teil der Welt davon überzeugt ist, es habe einen Völkermord gegeben.“ Wenn die Türkei sich nicht international völlig isolieren wolle, müsse sie daraus schnellstens politische Konsequenzen ziehen, fordern Birand und andere.

Tatsächlich wird die Lage für die türkische Regierung langsam bedrohlich. Noch vor der französischen Nationalversammlung hatte sich auch das Europäische Parlament entsprechend geäußert. In Italien fehlt zur Anerkennung des Genozids nur noch die Bestätigung durch die zweite Kammer des Parlaments, und auch in Großbritannien „droht“ wohl bald eine parlamentarische Behandlung des Themas. Existenziell wird es, wenn das US-Repräsentantenhaus einen bereits im Herbst vor den Präsidentschaftswahlen eingebrachten Resolutionsentwurf wieder aufnimmt und sich den Franzosen anschließt. „Mit wem, außer Nordzypern und Aserbaidschan wollen wir denn dann noch zusammenarbeiten?“, fragen die Pragmatiker entsetzt.

Der erste Punkt, der sich ändern müsse, ist das Verhältnis zum Nachbarn Armenien. „Armenien“, so der Industrielle Ishak Alaton in einer der Fernsehdebatten der letzten Wochen, „ist ein kleines, armes Land. Wenn wir unsere Beziehungen zu Armenien endlich normalisieren und wirtschaftliche Kontakte zu unseren Nachbarn aufbauen, wird sich die Debatte entkrampfen. In wenigen Jahren wird das Land Armenien auf gute Beziehungen zur Türkei nicht mehr verzichten wollen.“ Alaton, Birand und andere Realpolitiker weisen darauf hin, dass die Prioritäten in Armenien und in der weltweiten armenischen Diaspora durchaus unterschiedlich sind. Während die Diaspora ihre Identität durch den Genozid definiert, sind die Armenier in Armenien selbst erst einmal daran interessiert, ihre aktuelle Not zu lindern. „Die Türkei“, so Birand, sollte sich der Not in Armenien annehmen, „dann wird Eriwan sich auch von seiner Diaspora emanzipieren.“

Die dritte und im Moment noch kleinste Gruppe, die sich öffentlich zu Wort meldet, sind diejenigen, die wissen wollen, was wirklich passiert ist. Junge Türken äußern ihre Zweifel an der regierungsamtlichen Version des armenischen Aufstands. Aufklärung und offene Debatte sei nun gefordert. „Wenn wir uns abschotten“, so der Politikprofessor Eser Karakas aus Ankara, „bedeutet das das Ende des Demokratisierungsprozesses und den Rückfall in die ganz repressiven Zeiten.“ Allerdings schrecken auch sie davor zurück, die Massaker und die Deportation der armenischen Bevölkerung als Völkermord zu bezeichnen. Im türkischen Sprachgebrauch ist Völkermord Holocaust. Mit der Vernichtung der Juden aber will niemand die Verbrechen, die an den Armeniern verübt wurden, gleichsetzen. Das erklärt auch zum Teil, warum sich die türkischen Offiziellen mit solcher Vehemenz dagegen wehren, einen Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Der zweite Grund ist banaler, spielt aber eine mindestens gleich große Rolle: „Was passiert, wenn wir einen Genozid anerkennen und uns entschuldigen?“, fragen sie. „Die Armenier werden kommen und Land und Entschädigungen fordern.“

Um diese Ängste abzubauen, ist Fernsehmann Birand kürzlich nach Eriwan geeilt, um den armenischen Präsidenten Robert Kocharian zu interviewen. „Der Staat Armenien“, gab Kocharian in dem Interview zu Protokoll, „hat keine juristischen Ansprüche. Wir fordern kein Land und keine Entschädigungen, die Anerkennung des Genozids ist für uns eine moralische Frage.“ Dass es vor allem um den symbolischen Akt geht, wird auch von den Armeniern in der Türkei immer wieder betont. Etyen Mahcupyan, einer der bekanntesten armenischen Publizisten aus Istanbul, sagte in einer heftigen Debatte mit einem Vertreter der Regierungslinie: „Ja, es stimmt, dass armenische Bewaffnete zu Beginn des Kriegs auf russischer Seite mitgekämpft haben, es stimmt, dass Armenier einen Aufstand gemacht und auch türkische Dörfer angegriffen haben. Es stimmt aber auch, dass der damalige osmanische Staat das zum Anlass genommen hat, die gesamte armenische Bevölkerung aus Ostanatolien zu vertreiben, zu deportieren oder zu massakrieren. Dabei sind Hunderttausende getötet worden. Dafür könnte man sich entschuldigen.“