piwik no script img

„Die ‚Nigger‘-Rufe sind geblieben“

Vor einem Jahr sorgte ein Memorandum von 47 Asylbewerbern aus Rathenow für Aufregung: Brandenburg sei für Flüchtlinge zu unsicher, um dort zu leben, schrieben sie. Und forderten, das Land verlassen zu dürfen. Was hat sich seitdem verändert? Eine Ortbesichtigung in Rathenow

von HEIKE KLEFFNER

Rathenows Bürgermeister Hans-Jürgen Lünser ist sich sicher: „Hier hat sich etwas verändert im letzten Jahr.“ Seit zehn Jahren regiert der parteilose Politiker in der Kreisstadt 70 Kilometer westlich von Berlin. Doch so viel Medienaufmerksamkeit wie seit dem Memorandum von 47 Asylbewerbern im vergangenen Februar gab es zuvor nie für die „Stadt der Optik“, in der bis 1989 die VEB Rathenower Optische Werke für die Brillenproduktion der gesamten DDR sorgte.

Die kurze Erklärung auf Englisch sorgte für Schlagzeilen. „Wir finden das Land zu unsicher, um darin zu leben“, hatten die Männer und Frauen aus Pakistan, Togo, Kamerun und Afghanistan vor genau einem Jahr an die Kommunalpolitiker und die Polizei geschrieben. Niemand sei in der Lage, für ihre Sicherheit zu garantieren; rechte Übergriffe und rassistische Diskriminierungen würden ihren Alltag in der 26.000-Einwohner-Stadt unerträglich machen. Der Brief endete mit einem dramatischen Appell: „Bitte, bringen Sie uns aus dem Land Brandenburg.“

Demos und Sporttuniere

Manche Veränderungen seien sichtbar, sagt der Bürgermeister. Zum Beispiel die verstärkte Präsenz der Polizei vor den stadtbekannten Treffs der rechten Szene. Oder die Aktivitäten des Ausschusses „Tolerante Stadt Rathenow“, den die Stadtverordneten im Frühjahr gleich nach der Veröffentlichung des Memorandums eingesetzt haben, mitsamt einem Koordinator „gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt“. Der sitzt neben dem Bürgermeister und ist dankbar, wenn ihn jemand nach den Initiativen des Ausschusses fragt. „Schließlich wurde in vielen Reportagen immer nur negativ über die Stadt berichtet“, sagt Ronald Seeger. Dabei gebe es in Rathenow viele Institutionen und Einrichtungen, die etwas für Ausländer machen.“ Zwei Demonstrationen gegen „Fremdenfeindlichkeit“, Fußballturniere mit Teams aus den Flüchtlingsheimen, einen „Lauf für Toleranz“ und eine interkulturelle Woche unter Beteiligung der Asylbewerber und Veranstaltungen mit der Flüchtlingsinitiative zählen die beiden Kommunalpolitiker stolz auf.

Außerdem könnten die Asylbewerber inzwischen mit Chipkarten anstelle von Wertgutscheinen in ausgewählten Supermärkten einkaufen; Deutschkurse würden angeboten und gemeinnützige Arbeit. Die Jobs, mit denen Sozialhilfeempfänger und Asylbewerber für 2 Mark Stundenlohn beispielsweise beim städtischen Bauhof beschäftigt würden, seien „allerdings mehr etwas für die Seele,“ merkt Lünser dazu an. Aber: Andere Beschäftigungsmöglichkeiten gebe es in der Stadt mit einer Arbeitslosenquote von über 23 Prozent nicht.

Auch die für März geplante Schließung einer der beiden Flüchtlingsunterkünfte der Stadt gehört mit zur Erfolgsgeschichte des Bürgermeisters. Über 100 Asylbewerber würden in den kommenden Wochen aus dem Heim im Gewerbegebiet Heidefeld umgesiedelt. Wäre es nach dem Landratsamt gegangen, würden die Flüchtlinge in einem Heim mitten im Wald in dem kleinen Dorf Alt-Brieselang leben. Proteste der betroffenen Asylbewerber und der Dorfbewohner gegen die drohende soziale Isolation an dem neuen Standort hatte Landrat Burkard Schröder (SPD) noch im Oktober vergangenen Jahres mit der Bemerkung beantwortet, dass „angesichts der unsicheren Rechtslage und drohender Abschiebung eine völlige Integration kaum gewollt sein könne“. Inzwischen hat der Landrat nachgegeben, und nun sollen sechs Flüchtlingsfamilien in innerstädtische Wohnungen umziehen, während die allein stehenden Flüchtlinge in einem renovierten Plattenbau neben dem schon bestehenden Flüchtlingsheim in dem Industriegebiet hinter dem Bahnhof untergebracht werden.

Die Angst bleibt

Der Perspektivwechsel auf den Alltag in der „Toleranten Stadt Rathenow“ beginnt mit dem Gang durch einen menschenleeren Fußgängertunnel unter den Bahngleisen. Auf der anderen Seite umgibt ein kopfhoher Maschendrahtzaun die ehemaligen Vertragsarbeiterwohnheime neben der leer stehenden Fabrikhalle. Dahinter fängt der Wald an. Eine Kamera am Eingang, regelmäßige Polizeistreifen und ein Wachschutz sollen ungebetene Besucher abhalten, sich – wie im vergangenen Sommer – laut „Heil Hitler“ grölend vor den Plattenbauten zu versammeln.

„Willkommen in meinem Gefängnis,“ sagt der 18-jährige Chernor M. aus Sierra Leone. Gemeinsam mit drei erwachsenen Flüchtlingen teilt sich der Jugendliche ein 20 Quadratmeter großes Zimmer – eine Kochplatte, alte Bettgestelle, ein ramponierter Tisch, beiger Linoleumfußboden und ein Bad gehören zur Standardausstattung. Chernor M. würde gerne zur Schule gehen, doch dafür müsste er einen Deutschkurs besuchen. Den aber zahlt das Sozialamt nicht.

Jetzt renoviert Chernor M. für 2 Mark Stundenlohn das Nachbarhaus, in das demnächst die Asylbewerber aus Heidefeld einziehen sollen. „Aber nicht freiwillig“, betont er. Nachdem er mehrfach ohne Urlaubsschein außerhalb des Landkreises von der Polizei aufgegriffen wurde, muß er 125 Mark Geldstrafe wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht abbezahlen. Von den 80 Mark Bargeld, die er monatlich als Taschengeld zusätzlich zu den 310 Mark Sozialhilfe in Sachleistungen erhält, kann er das nicht aufbringen. Bis vor kurzem hatte er gehofft, von den Änderungen der Arbeitsbestimmungen für Asylbewerber, die länger als ein Jahr in Deutschland leben, zu profitieren.

Ein halbes Jahr lang hatte Chernor M. als Tierpfleger in einem „Erlebnismarkt rund ums Tier“ in Marzehne Schlangen und andere exotische Tiere versorgt – umsonst. Immer wieder habe der Tierparkbesitzer betont, er könne ihm wegen des Arbeitsverbots für Asylbewerber kein Geld bezahlen. Chernor M. arbeitete trotzdem weiter. Doch seitdem die neuen Arbeitsrichtlinien für Flüchtlinge in Kraft getreten sind, hat sich sein ehemaliger Arbeitgeber nicht mehr gemeldet.

Eine Einladung zum Biertrinken in einer der Kneipen der Stadt lehnt Chernor M. ab, nachdem er vor zwei Wochen beim Diskobesuch wieder einmal angepöbelt wurde. „Jedes Mal, wenn ich das Heim glücklich verlasse, komme ich gestresst wieder.“

Auch Julien M. aus Kamerun, der seit 15 Monaten als Asylbewerber in Rathenow lebt, mag die optimistischen Beurteilungen des Bürgermeisters nicht teilen. Der 30-jährige Journalist, der in seinem Heimatland wegen kritischer Artikel für eine katholische Zeitung mehrfach in Polizeihaft saß, bemüht sich sichtbar um ein objektives Urteil: Die offenen Übergriffe seien zurückgegangen. Und einige ältere Rathenower Bürger würden ihn jetzt demonstrativ auf der Straße grüßen. Doch die Beschimpfungen durch Jugendliche beim Einkaufen – „die ‚Nigger‘-Rufe“ oder „Haut endlich ab“ –, daran habe sich nichts verändert.

Das gilt auch für das Einkaufen, denn die vom Bürgermeister hoch gelobte Chipcard habe keineswegs zu einem Ende der Stigmatisierung geführt. In den Supermärkten seien Hinweisschilder an den Kassen für die Chipkartenträger eingeführt worden. „Alle Leute starren uns an, wenn wir uns da anstellen“, sagt Julien M. Und wer am Monatsende nicht für den gesamten Sozialhilfesatz eingekauft hat, verliert sein Guthaben. Julien sagt, dass die meisten Heimbewohner ohnehin noch immer nur in Gruppen zum Einkaufen in das City-Center gegenüber vom Rathaus gehen würden, das in der Hochglanzbroschüre „Wirtschaftsstandort Rathenow“ als „Urbanität im Herzen der Stadt“ angepriesen wird.

Vor dem glänzenden Schaufenster des „Multistores“ treffen sich noch immer jeden Nachmittag Gruppen von Jugendlichen mit kurz geschorenen Haaren, schwarzen und grünen Bomberjacken und Springerstiefeln. „Ich bin schon seit vier Jahren rechts“, sagt ein 18-jähriger stolz. Seinen Namen will er nicht nennen, doch zu seiner Gesinnung bekennt er sich offen. „Ich finde es gut, wenn Ausländer geschlagen werden.“ Warum? „Na, weil ich rechts bin.“ Die umstehenden Jugendlichen lachen. Nachfragen beantworten sie nicht. „Die Presse lügt doch sowieso.“

Wer hier anders aussieht, hat nicht viel zu lachen. Ein 14-jähriger, Sohn eines vietnamesischen Vaters und einer deutschen Mutter, hängt mit einem Freund auf der Treppe im Inneren des Einkaufszentrums ab, „bis der Wachschutz uns vertreibt“. Er erzählt im Flüsterton von Beschimpfungen als „Fidschi“ und dass „die Skins mich immer anmachen“. Als die Bomberjackenträger die Treppe hochkommen, verstummt er und steht auf.

Eine organisierte rechte Szene gebe es in Rathenow nicht mehr, sagt Bürgermeister Lünser entschieden. Anfang der 90er-Jahre sei das anders gewesen. Damals habe er sich mit den Anführern der Rechten mehrfach zu Gesprächen im Rathaus getroffen, um Randale zu vermeiden. Durch Gespräche, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Inhaftierung einiger Anführer sei dann einige Jahre Ruhe eingekehrt. „Viele von denen sind aus der Szene rausgewachsen.“ Heute seien vor allem Jugendliche unter 20 in der Szene aktiv.

Nicht mehr als Kosmetik

Das sieht Daniel Goltze, PDS-Stadtverordneter, ganz anders. Er berichtet von der Ausdifferenzierung der rechten Szene. „Die Älteren haben sich zu Kameradschaften zusammengeschlossen und die Jüngeren ziehen mit,“ sagt der 31-Jährige. Während hier Anfang der 90er-Jahre die verbotene „Nationalistische Front“ und die mittlerweile aufgelöste Neonazisammlungsorganisation „Die Nationalen“ aktiv waren, nennen sich die Rechten nun „Hauptvolk“ oder „Arische Kämpfer“. Den Umgang mit der rechten Szene fasst Goltze nüchtern zusammen: „Man hätte mehr machen müssen und mehr sehen können.“ Von den Aktivitäten des Ausschusses „Tolerante Stadt Rathenow“ ist er enttäuscht: „Afrikaner können schließlich mehr als Trommeln.“ Die Stadt würde es versäumen, über kosmetische Maßnahmen hinaus „Rassismus mit klaren Worten zu verurteilen“. Momentan seien die rechten Jugendlichen durch die Polizeipräsenz verunsichert, doch das könne sich schnell wieder ändern.

Eine Einschätzung, die auch Rudi Sonntag, Pressesprecher im zuständigen Polizeipäsidium Oranienburg, teilt. Von einer Umkehrung der Situation in der Stadt könne man nicht sprechen. „Wir stehen der rechten Szene auf den Füßen, aber wenn wir damit aufhören würden, könnte das als Zurückweichen interpretiert werden und die Rechten zu neuen Aktivitäten anregen.“

Für Bürgermeister Lünser aber ist klar: „Die Stadt ist auf dem richtigen Weg.“ Man müsse Geduld haben, schließlich brauche „so ein Prozess Zeit“.

Die Flüchtlinge in Rathenow wollen ihre Situation nicht in Vergessenheit geraten lassen. Für den 3. März planen sie eine Demonstration in Rathenow. Die Hauptforderung: „die Abschaffung der rassistischen Residenzpflicht“, sagt Christopher Nsoh. Der Jurist aus Kamerun, der zu den Mitbegründern der Flüchtlingsinitiative zählt, will nicht aufgeben. Trotz der negativen Schlagzeilen über seine Verurteilung wegen Drogenhandels und eines laufenden Ermittlungsverfahrens wegen Verleumdung von Polizeibeamten nach einem rassistischen Übergriff im August letzten Jahres ist er weiter aktiv. Sein Rechtsanwalt hat mittlerweile eine Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt. „Wir können doch nicht vor der rassistischen Gesetzgebung kapitulieren.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen