: Einsame Melancholie des Adels
Der Maler Balthus malte sich erotische Träume am Rande des Tabus aus. Zum Skandal taugte das Material zeitlebens dennoch kaum
von HARALD FRICKE und ULF ERDMANN ZIEGLER
Alle Zartheit ist Gift. Wie unter einer Staubdecke dahingesunken ruhen sich die Mädchen und Akte in den Gemälden von Balthus aus. Manche blättern schläfrig in einem Buch, andere träumen kaum bekleidet am offenen Fenster oder starren selbstvergessen und melancholisch in einen Handspiegel. Manchmal brennt im Hintergrund ein Kaminfeuer, manchmal reibt sich eine schnurrende Katze am Bettgestell.
Die Szenen, an denen der französische Maler polnischer Herkunft bis zu fünf Jahre arbeitete, sind Einübungen in klassische Genres. Der Raum, der die Figuren umgibt, ist rau und spröde wie in den Fresken der Renaissance und streng formatiert wie auf den Bilderarchitekturen eines Piero della Francesca; die spitzen Winkel, in denen das Mobiliar die Bilder fast zu durchschneiden scheint, sind den bürgerlichen Interieurs eines Bonnard verwandt; die dunkle, oft an Bühnensituationen erinnernde Atmosphäre zeugt von der Begeisterung für die verstiegenen Welten des Surrealismus. Nur die Motive von Balthus bleiben eindeutig – man spürt das sexuelle Begehren, das sich unverblümt in den Gesten, Haltungen und Blicken kaum geschlechtsreifer Mädchen abzeichnet.
Doch die Grenze zwischen erster empfundener Lust und Männerfantasie ist unscharf. Balthus malte sich erotische Träume am Rande des Tabus aus: Voyeurismus? Pornografie? Vielleicht gar Pädophilie? Zum Skandal taugte das Material zeit seines Lebens dennoch kaum. Dafür hängen die Bilder des am Sonntag verstorbenen Künstlers, der zu den bedeutendsten Malern des 20. Jahrhunderts zählte, heute im Louvre, im New Yorker Metropolitan Museum – und vor allem in Privatsammlungen. Dort jedenfalls können sie intim bleiben.
Balthus gehörte nicht in die Zeit, deren kulturelle Freizügigkeiten er so gerne aufnahm in seine Gemälde. Er hat sich stets zurückgezogen, auch dann, wenn ihn gar niemand bedrängte. Als Comte Balthazar Klossowski de Rola wurde er am 29. Februar 1908 in Paris geboren, im Ersten Weltkrieg floh seine adelige Familie nach Berlin. Dort wuchs der junge Graf in dem Glauben auf, ein Genie zu sein – was man ihm nicht übel nehmen kann. Denn Rilke hatte ein Bündel Tuschzeichnungen, die der Schüler Balthazar von einer ihm entlaufenen Katze gefertigt hatte, mit einem Vorwort versehen und 1921 in Frankreich publiziert. Da war der kleine Meister, dessen Mutter malte und dessen Vater kunstgeschichtliche Studien betrieb, 13 Jahre alt. Auf diese Weise fühlte er sich verbunden mit Mozart und versuchte, „etwas zu schaffen, das gleichermaßen intim und alltäglich ist, so universell, dass es jeder sofort verstehen kann“. Es mögen auch andere Beziehungen geholfen haben bei der Publikation: Die Mutter Balthus’ war Rilkes Geliebte.
Fortan arbeitet sich der junge Mann an Illustrationen ab. Besonders Lewis Carrolls Geschichte „Alice im Wunderland“ wird zur Vorlage unzähliger Studien, Zeichnungen und Ölgemälde. Immer wieder bevölkern Katzen und Spielkarten die Welt im Jugendzimmer. Nicht von ungefähr hat sich Balthus auf einem Selbstporträt auch „Her Majesty The King of Cats“ genannt. Anders als Carroll, bei dem die Zuneigung zu Mädchen in diskreten Anspielungen verborgen blieb, sucht Balthus aber schon bald explizitere Szenen. Er wird ein Maler erotischer Delikatessen, in deren Mittelpunkt sichtbar oder unsichtbar das Geschlecht eines (vor-)pubertären Mädchens steht. Im Sammlungskatalog des New Yorker MoMA, das sowohl sein berühmtes Bild „Die Straße“ (von 1933) besitzt als auch „The Living Room“ (1942), heißt es: „Die direkten psychosexuellen Implikationen solcher Bilder sind trivial, wenn man sie zu ihrer Struktur in Beziehung setzt, in der ihr Mysterium liegt.“ Aber wie kann das sein?
Seine „Gitarrenstunde“ von 1934 zeigt, fast in Lebensgröße, eine Musiklehrerin mit entblößter Brust auf einem höfischen Sessel; kunstvoll rücklings über ihr Knie gelegt eine schmale Gitarrenschülerin, deren zurückgerutschter Rock im Zentrum des Bildes sitzt wie der Schlund zur Hölle. Die eine Hand der Lehrerin, die ein Bein des Mädchens hält, ruht fast an seiner unbehaarten Scham, während die andere Hand in die Locken der hingegebenen Schülerin greift. Das Mädchen greift nach der Brust der Lehrerin: eine pädophil-lesbische Szene, wie man heute sagen würde. Die halb zugekniffenen Augen beider exakt zwischen Wollust und Tod.
Dieses Bild hing, ganz unmozartianisch, im Hintergrund der Pariser Galerie Pierre, als es 1934 zum ersten Mal gezeigt wurde. Balthus war 26 Jahre alt und stand sofort im Licht der Aufmerksamkeit. Doch die Nähe zum Surrealismus und dessen Beschwörung der Magie des Körpers machten aus der Provokation eine Hommage an Courbets „Origine du monde“ oder an Eduard Manets „Olympia“. Die Obszönität ist kein Angriff auf die Moral, sondern ein schwer zu ergründendes Zeichen. Trotzdem stürzt der Skandal, wie Claude Roy in seiner Monografie (über Balthus als Maler und Freund) offenbart, den adligen jungen Mann „in eine schwere Krise“. Er war nicht vorbereitet auf bürgerlichen Ruhm und bürgerliche Schmähung. Er hatte, um als Maler zu brillieren, die obsessive Seite seiner Empfindung dem kritischen Publikum offenbart.
Für die nächsten vier Jahre verschwindet er in einem Zimmer des baufälligen Hotel de Rohan, wo er – der akademisch keinen Lehrer hatte – sich für seine ersten Erfolge in melancholischer Verstimmung selbst bestraft. Nun verschwinden die stoffbespannten Wände aus seinen Bildern; die Spärlichkeit des Interieurs hat sich für viele Jahre festgesetzt. Wie es sich für einen berühmten Maler heimlicher Dinge gehört, verschwinden seine Gemälde ohne viel Aufhebens in privaten Sammlungen, weshalb man die wichtigsten nur aus Reproduktionen kennt.
Die Übertretung fasziniert vor allem andere Künstler. Artaud bittet Balthus, sein „Theater der Grausamkeit“ mit einem Bühnenbild auszustatten; Picasso erwirbt 1937 das Bild „Les Enfants“, auf dem zwei Kinder – Bruder und Schwester vermutlich – in einem Zimmer einträchtig lesen und spielen. Nur der böse, verzehrende Blick des Jungen bricht die Idylle auf, als hätte Marcel Proust in seinen Erinnerungen an die schöne Kindheit Feuer gelegt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg interessiert sich die Kunstöffentlichkeit mehr für die ungleich heißere, drastisch expressive Malerei der Amerikaner. Der balthussche Realismus hallt nur noch wie ein figuratives Zeugnis für die Dekadenz des Privaten aus einer vergangenen Epoche nach. Andere Maler besetzen den Posten des Körperfetischisten: Francis Bacon malt offensiv das unförmige Fleisch seiner Modelle; und die Fotografie dringt immer weiter auf das Terrain der Sexualität, deren Libertinage in den Sechzigerjahren praktisch alles sichtbar macht.
Balthus wechselt nach Rom, wird von 1961 bis 1977 Direktor der Villa Medici. Erst 1968 kommt es zu einer Retrospektive seiner Werke in der Londoner Tate Gallery. Doch da gilt der inzwischen Sechzigjährige, der sich nie wohl fühlte in Gesellschaft anderer Künstler, bereits als rätselhafter Eremit des Kunstbetriebs. Nach dem Pass ist er wohl Franzose, aber die Grenzen der Nationalstaaten spielen im adligen Milieu wohl keine Rolle. Seine jüngere Frau wird Satsuko Ideta heißen, und die gemeinsame Tochter Harumi mit ihrem wie geschnitzten Gesicht und knapper Figur wirkt, als sei sie den wollüstigen Träumen des Ateliers entstiegen.
So verschwindet der Maler Balthus von der Szene der modernen Kunst. Seine frühen Bilder sind stark und rar, die Figur des Malers unerreichbar. Er überlebt Picasso. Aber der arrogante junge Mann mit dem starken Kinn und dem Mantel, der auf den Boden reicht – wie eine frühe Fotografie ihn zeigt – wird nicht zur Ikone des französischen Solitärs im 20. Jahrhundert, weil ein Konkurrent eine andere Sorte von Adel erfunden hat: den intellektuellen. Der heißt Duchamp. Am 29. Februar 2000 gratulierte das SZ-Magazin dem alten Mann zum „23. Geburtstag“, ein Scherz, der seine schon fast unheimliche Präsenz gut umreißt. Der Interviewer findet in dem Haus einen gläubigen Katholiken, der kettenrauchend im Atelier über seine Bilder sinniert. Sein Modell war gerade die Tochter des Dorfarztes, und sie war zwölf.
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