MODERNES LESEN: NEUE BÜCHER KURZ BESPROCHEN:
VON GERRIT BARTELS
„Ich schreibe Fiktion, und man sagt mir, es sei Autobiographie, ich schreibe eine Autobiographie, und man sagt mir, es sei Fiktion, und da ich folglich so schwer von Begriff bin und die so klug sind, sollen die anderen doch entscheiden, was es nun ist oder nicht ist.“ (Philip Roth, „Täuschung“)
Biografie
Saul Bellow: „Ravelstein“, Deutsch von Willi Winkler, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 272 S., 39,90 DM
Viele Schriftsteller mögen sie nicht und wehren sie routiniert-gelangweilt oder wütend entschlossen ab: die Fragen nach den biografischen Hintergünden ihrer Romane, die Einschätzungen, dass der Großteil des Romanpersonals Menschen aus dem wirklichen Leben nachzeichne usw. usf. So hat auch Philip Roth, ein Großmeister im Schreiben von fiktiven Autobiografien und autobiografischen Romanen, neulich erst wieder in einem Zeit-Interview wortreich Klage geführt über das schlimmste Missverständnis, „mit dem alle amerikanischen Schriftsteller heute zu kämpfen haben: die Vorstellung, dass Literatur ausschließlich aus biografischen Quellen schöpft“, und dann als Beispiel die Rezeption des neuen Buchs von Saul Bellow genannt, „Ravelstein“.
Ausgerechnet dieser scheint sich aber nicht daran zu stören, dass sein Roman vor allem als Schlüsselroman gelesen wird, und zitiert seit Jahren immer wieder gern einen Ausspruch von Alberto Moravia: „Ein Schriftsteller schreibt immer nur über sich. Seine Bücher sind eine höhere Form von Autobiografie.“
In „Ravelstein“ nun porträtiert Bellow mehr oder weniger unverhüllt den 1992 verstorbenen Philosophieprofessor Allan Bloom, ein alter Freund und Kollege von Bellow während einer Lehrtätigkeit an der Universität von Chicago. Bloom wurde in den USA in den späten Achtzigern reich und berühmt mit seinem Buch „The Closing of the American Mind“, einer kritischen und konservativen Abrechnung mit der amerikanischen Kultur und ihrem Bildungssystem. Inspiriert und mit einem Vorwort versehen wurde dieses Buch von Saul Bellow.
„Ich möchte, dass du über mich schreibst, mich in einem Buch festhältst“, sagt in Bellows Roman der Held Abe Ravelstein zu seinem Freund Chick, dem Erzähler, und Chick alias Bellow hat sich dran gehalten: beschreibt Ravelstein mit allen Vorzügen und Schwächen, sein Aussehen, den Luxus, in dem er lebt, seine Homosexualität, sein Sterben an Aids. Es ist die Biografie eines amerikanischen Intellektuellen, die Bellow geschrieben hat, und das „ohne große Kenntnis in politischer Philosophie“, wie Chick einmal sinniert. Bellow zeigt, wie Leben und Werk zusammengehören, dass es kein Widerspruch sein muss, den Niedergang amerikanischer Kultur zu beklagen und ein genüsslich-ausschweifendes Leben zu führen mit Streifenhemden von Kisser & Asser, 5.000-Dollar-Anzügen und goldenen Manschettenknöpfen. Das Buch trägt natürlich auch autobiografische Züge und nährt insbesondere zum Ende hin den Verdacht, als es um die Komplikationen nach einer Fischvergiftung und den Fast-Tod von Chick/Bellow geht, dass sich hier einer am eigenen Überleben mächtig berauscht. Was aber vor allem nach der Lektüre bleibt, sind zwei ältere Männer, die intelligent und witzig drauflos reden, die unter der Schuld leiden, den Holocaust überlebt und sich arrangiert zu haben, und die beide einem klassischen Bildungsideal verpflichtet sind: „Früher einmal hatte es in unserem Land eine bedeutsame literarische Gemeinschaft gegeben, zählten Medizin und Jura noch zu den ‚gebildeten‘ Berufen, doch kann man heute in einer amerikanischen Stadt keine Ãrzte, Anwälte, Geschäftsleute, Journalisten, Politiker, TV- Moderatoren, Architekten oder Einzelhändler erwarten, die sich über Romane von Stendhal oder die Gedichte von Thomas Hardy unterhalten [...]. Besser, man geht in Begleitung von Anna Livia Plurabelle in die Ewigkeit ein, als mit den Simpsons, die über den Bildschirm zappeln.“
Autobiografie
James Salter: „Verbrannte Tage“. Deutsch von Beatrice Howeg, Berlin Verlag 2000, 503 S., 48 DM
Man kann den Begehrlichkeiten nach biografischen Quellen auch anders begegnen, indem man mehr oder weniger offen in einem Buch biografisch Auskunft gibt und dieses als „Erinnerung“ deklariert, so wie James Salter mit seinem Buch „Verbrannte Tage“. Salter schildert seine Ausbildung zum Piloten in West Point und seine Zeit bei der Air Force im Pazifik, den USA, Europa und Korea; und schließlich sein Leben als Drehbuchautor im Filmgeschäft mitsamt Eindrücken von Frankreich (Paris, ein Fest fürs Leben!) und Italien. Worüber Salter nur beiläufig schreibt, ist seine Tätigkeit als wenig erfolgreicher Schriftsteller: Bis in die späten Achtziger war er weitestgehend unbekannt, erhielt 1988 den PEN/Faulkner Award für seinen Erzählband „Dämmerung“, und fand hier zu Lande erst in den späten Neunzigern durch die Romane „Lichtjahre“ (im Original von 1975) und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ (von 1967) größere Beachtung. Eine Zurückhaltung, die ihren Grund hat: „Ich hatte zwei Bücher geschrieben, aber meine Kraft lag darin, dass ich nichts erreicht hatte. Meine Stärke war die, dass niemand meinen Namen kannte.“
Das Buch ist zwar in zwei größere Abschnitte eingeteilt, doch Salter hält sich in diesen an so gut wie keine Chronologie und erzählt hin und her und vor und zurück. „Verbrannte Tage“ wirkt wie eine Ansammlung von Anekdoten, Porträts und Kurzgeschichten, die Salter erzählend bündelt. Seinen Reiz bekommt das durch den leichten, eleganten und melancholischen Ton von Salter, ein Ton, in dem die Vergänglichkeit jeglichen Lebens mitschwingt: „Es gibt Geschichten, die man erzählen muss, und Jahre, in denen sie erzählt werden müssen.“
Ist Salter offenherzig und ohne Zweifel, was seine Zeit als Flieger anbetrifft, wirkt hier seine Erinnerung intensiv und eindringlich, so lässt er sich später seitenweise über die Leute aus, denen er im Filmgeschäft begegnet ist: Robert Redford, Roman Polanski, Sharon Tate, John Huston. Manchmal sind es nur Bekannte oder Freunde dieser Stars, doch das ficht Salter nicht an, ihm reicht schon, dass er in einem Ort lebte, in dem auch der Maler X oder Filmstar Y ein Haus besaß, um diesen irgendwie zu kennen.
Solch unverbrämte Angeberei korrespondiert dann aber wieder mit Sätzen wie: „Ich war zehn, fünfzehn Jahre lang eine poule“, oder der Geschichte über den Tod seiner Tochter. Salter liebt den Glanz, ist durch und durch geprägt von seinen Jahren als Pilot, ist aber auch zutiefst melancholisch und weiß in Maßen auch um die eigenen Unzulänglichkeiten. Als Autobiografie mag dieses Buch nicht unbedingt taugen, dazu bleiben zu viele Fragen offen, blendet Salter zu viel aus. Doch ein Buch wie dieses zu schreiben, hat es auch in sich, wie Salter vor Jahren der New York Times verriet: „Du schreibst das definitive Buch. Du schreibst es nicht noch einmal. In einem gewissen Sinn ist es, als würdest du dein Leben beenden.“
Gegen-Biografie
John Updike: „Bech in Bedrängnis“. Deutsch von Helmut Frielinghaus. Rowohlt Paperback, Reinbeck 2000, 284 S., 26 DM
John Updike sah das mit dem „definitiven Buch“ pragmatischer, als er vor elf Jahren seine Erinnerungen „Selbst-Bewusstsein“ veröffentlichte. Als man ihm erzählte, „vielleicht auch nur aus Spaß“, wie er anmerkte, dass jemand seine Biografie schreiben wolle, setzte er sich kurzerhand hin und schrieb seinerseits „Ansätze zu einer Autobiografie“ – zu widerwärtig fand er die Vorstellung, sich von einem Fremden „mein Leben, meine Goldmine, meinen Hort an Erinnerungen wegnehmen“ zu lassen.
Ganz anders sollte sich das mit der Romanfigur Henry Bech verhalten, einem Schriftsteller, den Updike 1970 sozusagen als Gegenmodell zur eigenen Person entwarf: Bech lebte in New York, war unverheiratet, kinderlos, jüdischer Herkunft, und er hatte eine Schreibblockade (Updike kommt vom Land, ist verheiratet, hat Kinder, ist protestantisch und schreibt fast jedes Jahr mindestens ein Buch). Bech trug dennoch viele Züge anderer Updike-Helden: Er hatte Angst vor dem Leben, Angst vor dem Sex, dem Tod und nicht zuletzt vor dem Schreiben.
Mit „Bech in Bedrängnis“ lässt der unermüdliche Updike nun seinen Henry ein drittes Mal (nach „Bech: A Book“, 1970, und „Bech is back“, von 1982) auflaufen und ein repräsentatives Schriftstellerleben führen: Bech schreibt nicht, er hatte „jenes fortgeschrittene Stadium des Schriftstellerdaseins erreicht, in dem das Schreiben hauptsächlich aus Beiträgen zu Festschriften bestand“, aber er ist präsent, Bech ist ein Grübler und Außenseiter, aber er wird erhört, er ist kein Niemand, sondern der Schriftsteller, der vor langer Zeit mal einen Bestseller hatte. Und Bech, mittlerweile 76 Jahre alt, hat auch nicht mehr so viel im Sinn mit jüngerer Literatur: „Ich gestehe, meine Damen und Herren“, sagt Bech auf einer Versammlung von älteren Künstlern, „dass neue erzählerische Prosa mich ermüdet. All dies Leben, das nicht das meine ist. All dies Aufmerksamkeit heischende Rufen: ‚Seht mich an‘.“
So ist das, wenn man in die Jahre kommt und sieht, wie die anderen es treiben mit ihren Egotrips (obwohl Bech sich nicht zu verstecken braucht), zumal er sich bald noch an seinen missliebigsten Kritikern rächt, in dem er sie hinterlistig um die Ecke bringt. Das hat Updike beim Schreiben bestimmt Spaß gemacht, das taugt gut als Parodie auf den Literaturbetrieb, das setzt ihn aber auch dem Verdacht aus, eigene Sensibilitäten zu droppen und die Bech-Romane vor allem für sich selbst geschrieben zu haben. Am Ende erhält Bech den Nobelpreis, und ein Schelm, wer dabei denkt, dass hier ein inniger Wunsch Updikes der Vater dieser Episode war.
Keine Biografie
Philip Roth: „The Great American Novel“. Roman. Deutsch von Werner Schmitz, Hanser Verlag, München 2000, 445 S., 49.80 DM
Angesichts so vieler biografisch eingefärbter Romane ist es umso erstaunlicher, dass ausgerechnet Philip Roth ein Buch geschrieben hat, das ohne Bekenntnisse, Täuschungsmanöver oder labyrinthische Selbstbespiegelungen auskommt: „The Great American Novel“. Es stammt aus dem Jahr 1973, wurde jetzt erst ins Deutsche übersetzt, und wirkt im Nachhinein so, als hätte Roth noch mal Luft holen wollen, bevor er sich mit dem Beginn der Zuckermann-Trilogie endgültig daran machte, Freud und Leid eines erfolgreichen jüdischen Schriftstellers in seine Bücher umzuleiten.
Anfänglicher Ich-Erzähler von „The Great American Novel“ und später Autor eines Romans im Roman ist der einstige Sportreporter und jetzige Bewohner eines Seniorenheims, der 87 Jahre alte Word Smith, genannt Smitty. Wie man im Prolog des Buches erfährt, wurde er von dem ausgelaugten Hemingway auserkoren, statt seiner den großen amerikanischen Roman zu schreiben. Smitty lässt sich das nicht zweimal sagen, watscht kurz Melville, Twain und Hawthorne ab und macht sich dann an den Roman, der, wie es sich für einen Sportreporter gehört, das große amerikanische Spiel zum Thema hat: Baseball. Genauer: Das Schicksal der Mundys, einem Baseballteam aus Port Ruppert in New Jersey, das 1943 all seine Spiele in der Patriot League, der angeblich dritten großen Baseball-Liga in den USA, in fremden Stadien austragen muss.
Smitty schreibt diese Geschichte auch deswegen, weil die Patriot League „vorsätzlich aus dem nationalen Gedächtnis beseitigt wurde“. Es gibt sie, es gibt sie nicht, und so hat Smitty auch Probleme, seine Geschichte an den Mann zu bekommen: Am Ende des Romans bietet er sie Mao Tse-tung an.
Wahrheit und Fiktion, Original und Fälschung, der große amerikanische Roman und die Parodie auf ihn, Sport und Politik: Es schwingt viel mit in Philip Roth’ Roman, doch am Ende einer beschwerlichen Lektüre ist er vor allem eins: ein Baseball-Roman, in dem zwar viele Außenseiter, Zwerge und Freaks vorkommen, in dem aber ohne Unterlass von Battern, Werfern, Homeruns, Innings, Hits und Errors die Rede ist; ein Buch also, das viel Wohlwollen und Willen zum Spiel braucht. Im Baseball die Welt und wie sie funktioniert zu erkennen, das können eben doch nur Amerikaner – weswegen es wohl auch 27 Jahre bis zu einer deutschen Übersetzung brauchte. Und so ein Buch kann dann auch nur jemand schreiben, der schon mal einen seiner Helden, Alexander Portnoy nämlich, flehentlich ausrufen ließ: „Oh to be a center fielder, a center fielder – and nothing more!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen