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Die Einsamkeit des Nachtarbeiters

Er trinkt nicht, er tanzt nicht, aber er ist auf jeder Party dabei: André C. Hercher macht jeden Monat etwa tausend Fotos vom Nachtleben in Berlin. Alle zwei Wochen druckt der „Flyer“ eine Auswahl der Club-Bilder – die Galerie ffwd zeigt jetzt eine Ausstellung mit den „Polaroids 1995-2000“

von CORNELIUS TITTEL

André C. Hercher gibt keine Pressekonferenzen. Er hat keine Zeit, und er kann auch nicht abschätzen, wann oder ob es überhaupt auch nur die im Bereich des Wahrscheinlichen liegende Möglichkeit gäbe, ihn zu einem Gespräch zu treffen.

Die Berlinale ist in der Stadt, und nie war es härter, André C. Hercher zu sein. Menschen, die sich dieser Tage durch sechs Wettbewerbsbeiträge am Stück quälen hätten zu Hause bleiben können. Er nicht. Die Welt ist in Berlin zu Gast und vielleicht, so hoffen wir mit ihm, tanzt sie in Gestalt Kate Winslets auf Cookies sagenumwobenem WC und er, André C. Hercher, wäre zur Stelle, die Kamera konzentriert vors Kassengestell gepresst.

Ihn, wie er von Party zu Premiere und zurück hetzt, einfach nur busy zu nennen, trifft es nicht. Genauso könnte man Triebtätern eine enorme Geschäftigkeit attestieren. Hercher ist besessen. Jeder kann es sehen, und auch er weiß es. Besessen von einem seinerseits nicht weiter reflektierten Verlangen, den Spaß, den Menschen haben, die anders sind als er, gewissenhaft zu protokollieren. Club für Club, Nacht für Nacht. „Es ist vielleicht der einzige Beitrag, den ich leisten kann“, sagt er, ohne auch nur aufzuschauen, „das Nachtleben zu archivieren. Ich trinke nicht, tanze nicht, bin nicht cool. Ich mache Fotos.“

Nach einer Woche penetranten Telefonterrors und mehreren gescheiterten Anläufen („Wo bist du gerade? Ich bin am Potsdamer Platz und hätte ab jetzt exakt eine halbe Stunde Zeit“) ist es so weit. Gerade noch zwischen zwei Termine gepresst, sitze ich ihm gegenüber, allein in einem geschlossenen Raum. Eine, wie er zugibt, nicht unerhebliche Grundvoraussetzung für ein Gespräch, sind doch potenziell vorbeiflanierende Motive von vornherein ausgeschlossen.

Seit nunmehr acht Jahren ist André C. Hercher in den Clubs der Stadt, auf Vernissagen und auf Partys unterwegs, ständig auf der Suche nach interessanten, vom Alkohol geröteten Gesichtern, die im besten Falle vom Glück der nächtlichen Exzesse erzählen. Etwa tausend Bilder trägt Hercher jeden Monat zusammen, einen Bruchteil davon können seit 1995 die Leser des Flyer begutachten. Wobei Hercher großen Wert auf die Feststellung legt, keinesfalls für den Flyer zu fotografieren. „Das ist mir sehr wichtig, ich mache das ausschließlich für mich.“

Hercher redet langsam und leise, sein Blick bleibt gesenkt. Nichts scheint dem studierten Physiker ferner zu liegen, als über sein eigenes Tun zu theoretisieren. Es gebe nichts zu sagen, er sei immer schon „traditionell Beobachter“ gewesen. „Vielleicht fühle ich mich deshalb so wohl beim Fotografieren, weil ich da, anders als in der Physik, nichts reflektieren muss. Ich muss nicht einmal nachdenken, nur knipsen.“

Nacht für Nacht knipsen, Zeit für anderes bleibt kaum. Seine Doktorarbeit in Festkörperphysik sei eingeschlafen, das eine sei mit dem anderen nicht länger zu vereinbaren gewesen und der Tick längst zur eigentlichen Berufung geworden. Wer André C. Hercher beobachtet, wie er sich nächtens seitengescheitelt durch die schwitzende Jeunesse dorée schlängelt, Phänotyp des verhuschten Naturwissenschaftlers in einem Meer glitzernder Dekolletees, könnte durchaus niedere Motive vermuten. Hercher selbst sagt, er habe gar keine Motive: „Ehrlich, ich kann nicht sagen warum. Wenn es eine gute Party ist, habe ich Spaß, und manchmal unterhalte ich mich auch.“

Freundschaften hingegen seien in acht Jahren Nachtleben keine entstanden. „Ich hatte nie Zeit, mich auf irgendjemanden einzulassen. Ich unterhalte mich und sehe aus dem Augenwinkel ein Motiv. Was soll ich tun? Selbst wenn ich mich für das Gespräch entscheide, das Suchen, die Blicke, die stören schon.“ Nicht nur Gespräche, auch die Legenden des Nachtlebens scheinen an Herchers Trenchcoat abzuperlen. Mit Anekdoten kann er auch nach Jahren noch nicht dienen, dazu sei er immer zu sehr außen vor geblieben. Seinen Nightlife-Approach beschreibt er folgerichtig als „tendenziell autistisch ... Es hilft, autistisch zu sein, eine Grunddistanz zu haben: Die Chronik wird objektiver.“

Die Resonanz auf Herchers Treiben ist milder geworden. Nach anfänglichen Irritationen, zeitweiligen Hausverboten und der immer wieder aufgeworfenen Frage, ob es sich bei ihm nicht doch um einen gewöhnlichen Perversen handele, hat man ihn längst akzeptiert. Ausgerechnet er, der blinde Fleck des Berliner Nachtlebens, vermittelt den Akteuren das Gefühl, dazuzugehören, bietet ihnen Raum für die Inszenierung des Sozialen.

Man freut sich, in seine Kamera grinsen zu dürfen, und so soll mancher aus der süddeutschen Provinz Zugezogene schon mit stolzgeschwellter Brust ein Flyer-Exemplar an die daheim gebliebene Schwester geschickt haben, als Beweis gewissermaßen, doch noch Teil einer Jugendkultur geworden zu sein.

Die Ausstellung mit André C. Herchers „Polaroids 1993-2000“ ist noch bis heute, 18 Uhr, in der Galerie ffwd, Ackerstr. 154 in Mitte zu sehen.

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