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Barocke Renaissance

Die Pelourinho, das ehemalige Armenviertel von Salvador, erstrahlt wieder in barocker Pracht. Tausende Nachtschwärmer stürmen jeden Dienstag in das alte Zentrum, um sich zu amüsieren

von VERENA MÖRATH

„Diese Stadt wirst du niemals vergessen!“, verspricht Dulvar da Silva und winkt ein Taxi heran. Er arbeitet als Reiseführer, aber auch als Spanischlehrer, Polier und Automechaniker – nur so kann der Familienvater seine Frau und vier Kinder ernähren. Charmant „adoptiert“ der 43-jährige Überlebenskünstler ankommende Besucher schon kurz nach der Passkontrolle am Flughafen von Salvador da Bahia. Endlich in Brasilien!

Bis vor kurzem galt Rio de Janeiro als das einzig wahre Eingangstor zu diesem Land. Aber in den letzten Jahren macht die „Cidade do São Salvador da Bahia de Todos os Santos“, im Volksmund weniger umständlich Salvador genannt, Rio de Janeiro diesen Rang streitig. Das Image der Stadt ist nicht gerade bescheiden: Salvador gilt als das „Herz Brasiliens“, als ein „Stück Afrika“, als das „schwarze Rom“ und die „kulturelle Wiege“ des Landes. Außerdem gibt es südlich wie nördlich der 2,2-Millionen-Metropole und Hauptstadt des Bundesstaates Bahia endlose Strände: mit weißem Sand und meist menschenleer.

Bergauf, bergab geht es durch die schmalen Gassen des Pelourinho, der historischen Altstadt von Salvador, benannt nach dem Pranger, an dem einst die aus Afrika verschleppten schwarzen Sklaven öffentlich ausgepeitscht wurden. Nichts erinnert mehr daran: Die pastellfarbenen, bunten Häuserfassaden wirken in der Nachmittagssonne wie aus Zuckerguss – die reinste Idylle. Noch vor einem Jahrzehnt fraß sich hier die feuchte Meeresluft durch den Putz, stürzten unzählige Häuser ein. Damals war der Pelourinho, von den Einheimischen einfach nur Pelô genannt, einer der größten innerstädtischen Slums Brasiliens, eine Gegend, in die sich keine Touristen wagten.

Jorge Amado, berühmtester Schriftsteller Brasiliens, beschrieb schon 1944 das einstige Nobelviertel mit seiner barocken Architektur, den unzähligen Kirchen und Kathedralen als Ort der Armut, der Krankheiten und des Schmutzes: „Hier ist das Ende der Welt. Mitten in der Stadt, mitten im Herzen Bahias.“ Von dem Wohlstand der Zuckerbarone, der Sklavenhändler und Geistlichen in der Blütezeit Salvadors zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert war nichts übrig geblieben.

1985 erklärte die Unesco das größte zusammenhängende Barockensemble Lateinamerikas zum Weltkulturerbe. Aber erst acht Jahre später begann man im großen Stil zu sanieren. Inzwischen ziehen die Touristen in Scharen durch die „neue“ Altstadt, angezogen von zahllosen Restaurants, Straßencafés und Bars, von Theateraufführungen, Museen und unzähligen Volksfesten. Denn es heißt: „Wenn die Bahianos nicht feiern, üben sie das Feiern!

Bumbum-tschiki-tschiki-bumbum ... Samba-Rhythmus und fast kein Durchkommen mehr im Pelô. Fast an jeder Ecke proben Trommelgruppen mit ihren Tänzern, aus den Kneipen und Bars dröhnt Samba, Bossa Nova oder Reggae. Rund 10.000 Nachtschwärmer aus allen Schichten und Altersgruppen, darunter viele ausländische Touristen, stürmen in das alte Zentrum, um sich zu amüsieren. Dieses Treiben ist kein Ausnahmezustand, sondern ganz normal an jedem Dienstagabend. Man könnte meinen, Karneval finde hier ein Mal in der Woche statt. Das ganze Jahr über. Und so bedient Salvador das gängiges Klischee: Brasilien = Samba.

Mittlerweile kommt jedoch noch ein bahianisches Kulturgut zunehmend in Mode, wird weltweit exportiert, hierzulande gar als Stimmungsmacher in Werbespots benutzt: die Capoeira. Der kunstvolle, akrobatische Kampfsport, den einst die schwarzen Sklaven als Mittel der Revolte entwickelt hatten. Noch bis 1920 war er in ganz Bahia verboten. „Kaum einer weiß heute noch, dass Capoeiristas wie reudige Hunde verfolgt wurden“, erzählt Dulvar. Erst ab Mitte der 30er-Jahre, mit der Gründung der ersten Capoeira-Schule durch den berühmten Mestre Bimba, habe sich Capoeira zu der nun praktizierten Mischung aus Tanz, Spiel und Meditation entwickelt. Heute trainieren in jedem Winkel Salvadors Kinder, Jugendliche und Erwachsene – mitunter auch Touristen – mit großer Leidenschaft, wenn möglich, jeden Tag, geradezu fanatisch.

Selbst der viel beschäftigte Dulvar findet die Zeit, drei Mal in der Woche Lernwilligen Unterricht zu geben. Ganz ohne Bezahlung, weil seine Schüler Kinder aus armen Familien stammen. „Für mich ist das eine Mission. Denn Capoeira ist nicht irgendein Sport. Capoeira dient der Selbstverteidigung und ist eine Orientierung für die Kids“, meint Dulvar. Er hofft, dass das regelmäßige, gemeinschaftliche Training hilft, die Kinder von Drogen fern zu halten.

Bei 40 Grad Hitze perlt den regungslosen Zuschauern der Schweiß von der Stirn, den trainierenden Schülern rinnt er nach einer Weile in Bächen herunter. Konzentriert werden die Bewegungsabläufe der unzähligen Capoeira-Figuren geübt. Zum Beispiel der „Halbmond von vorne“ mit den Beinen. Diese leisten sowieso die Hauptarbeit, die Arme schwingen und stützen ab, wenn man sich am Boden bewegt. Wenn Dulvar beginnt, seinen Birimbau, das traditionelle Instrument der Capoeira, zu zupfen, stellen sich die Schüler in einem Halbkreis auf, klatschen und singen anfeuernd. Immer zwei finden sich nun zusammen und „spielen“ miteinander: tänzeln, angreifen, treten und doch den Gegner um Haaresbreite verfehlen – das ist die Kunst. Aber ein Capoeira-Meister fällt nicht vom Himmel. „Mindestens 20 Jahre braucht man, bis man die weiße Kordel tragen und sich Meister nennen darf,“ erklärt der 17-jährige Louis Henrique, „nichts wird einem bei der Capoeira geschenkt.“ Aber die „Ginga“, Grund- und Wiegeschritt der Capoeira, kann man auch ohne viel Talent nach einer Stunde Übung. Ihn und den Muskelkater, ebenso wie die Stadt Salvador, vergisst man nicht. Da hatte Dulvar ganz Recht.

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