Zwieback für die Liebenden

Das finanziell in Schieflage geratene Theater zum Westlichen Stadthirschen hat den Erinnerungsroman „Gestern“ von Agota Kristof für die Bühne bearbeitet

Mit der Kindheit ist das so eine Sache. Sie muss als Muster der Erklärung herhalten für das, was später geschieht. Denn wie soll man sonst das fehlende Talent zum Glück und die misslingende Liebe aushalten. In den Romanen von Agota Kristof wie „Das große Heft“ und „Gestern“ ist Kindheit zudem ein Grenzgebiet, bewohnt von Vertriebenen. Armut, Scham und Demütigung stehen ganz am Anfang jeglicher Erfahrung, von hier aus erzählen die Figuren mit Sätzen wie aus Holz geschnitzt ihre Geschichte. Doch je atemloser die Sprache dem Geschehen folgt, je weniger Platz sie lässt für Reflexion und Distanz, desto mehr misstraut man ihr. Dennoch ist das Lesen (oder Zuhören) die einzige Form der Teilnahme, die man Kristofs Figuren entgegenbringen kann.

Mit dem Roman „Gestern“ bearbeitet der Regisseur Erick Aufderheyde im Theater zum Westlichen Stadthirschen zum zweitenmal einen Text der Autorin, die in Ungarn aufwuchs und 1956 in die französische Schweiz emigrierte. Dieser biografische Bruch bildet die Grundierung des steifen, aber präzisen Duktus ihrer Sprache, in der man sich nie wohl oder zu Hause fühlen kann. In „Gestern“ wechselt die Rede ständig zwischen erster und dritter Person. Diese Fremdheit im eigenen Ich, das Staunen übers eigene Leben herauszubringen, gelingt dem kleinen Ensemble des Theaters ungeheuer gut. Sie sprechen Texte im Chor, wechseln sekundenschnell zwischen Dialog und Bericht, zwischen Innen- und Außenperspektive und tauschen die Rollen untereinander wie Hemden. Was zur Aufführung kommt, bleibt immer kenntlich als Hilfskonstruktion, als Annäherung in groben Linien. Tiefer einzudringen und feinere Farben zu benutzen wäre Luxus, der in diesen Leben nicht vorgesehen ist.

„Gestern“ erzählt die Geschichte von Sandor und Line. Sie begegnen sich einmal als Kinder und sind vielleicht Geschwister. Sie begegnen sich fünfzehn Jahre später an den Stanzmaschinen einer Fabrik und sind vielleicht ein Liebespaar. Ihre Erinnerungen und Wahrnehmungen stimmen selten überein. Die Handlung erreicht mehrmals das Ausmaß einer antiken Tragödie. Aber der minimalistische Stil unterläuft jedes Pathos und jede Katharsis: Zwei Scheiben Speck abgeschnitten und danach auf den Ehemann Lines eingestochen. Das Messer ist dasselbe, und der unaufgeregte Tonfall, in dem Sandor uns das erzählt, auch. Strafe und Verdammnis fallen aus, und das ist für Sandor, der sein Leben nicht mehr nur wie durch ein Fernglas beobachten will, vielleicht das Schlimmste. Ganz kurz erlaubt das Stück ihm in Traum, Wahn und Poesie abzuheben. Dann muss er in Normalität weiterleben.

Einmal schenkt Line Sandor einen Zwieback, und selbst dieses trockene Gebäck mutet ihn wie etwas Gutes an. Man könnte den unterkühlten Stil der Inszenierung gut mit einem solchen Zwieback vergleichen, der zur Klebrigkeit von Reality-TV die größtmögliche Distanz einlegt. Die Wahrhaftigkeit der Figuren wächst mit dem Einblick in ihre künstliche Konstruktion aus der Sprache. Zu dieser Kargheit passt das düstere Bühnenbild, das sich zu einem Tunnel verengt und mit spärlicher Möblierung als Wohnung, Fabrik, Straße, Wald oder Bus herhält. Den Rest muss die Fantasie besorgen, und siehe da, das fällt ihr nicht schwer.

Doch so ökonomisch das Theater zum Westlichen Stadthirschen auch mit seinen ästhetischen Mitteln waltet, ohne Bühnen- und Probenraum geht es nicht. Den noch zu finanzieren könnte in Zukunft aber schwer werden: Die Basisförderung, die sie für jeweils zwei Jahre erhalten, ist für 2001/02 von 490.000 auf 250.000 Mark gestrichen worden. Eine zusätzliche Spielstättenförderung wurde nur in Höhe von 60.000 Mark bewilligt, und damit ist der Theaterraum in Kreuzberg, der zudem mit anderen Gruppen geteilt werden muss, nur noch ein Jahr zu halten. Dominik Bender, der 1982 zu den Gründungsmitgliedern des Theaters gehörte und in „Gestern“ den Sandor spielt, kann zwar ein Argument hinter dieser Verknappung nachvollziehen: Die Mietkosten des Theaters sind für den ins Abseits gerutschten Standort zu hoch und die Suche nach einer neuen Spielstätte steht dringend an. Doch das Fehlen von 180.000 Mark drückt auch die personelle Ausstattung der Projekte und die Zahl der Produktionen. So grade am Rande des Überlebens gehalten zu werden ist nach fast zwanzig Jahren Theater schon ein herber Schlag. KATRIN BETTINA MÜLLER

„Gestern“, bis 31. 3. Mi – Sa, 20 Uhr, (außer 2., 8.,16. und 24. 3), Theater zum Westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37.